Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
zurück und küsste sie sanft zum Abschied.
Sie wachte nicht auf.
Sie wird nie mehr aufwachen.
12. Juli
Syl weckte mich. »Tut mir leid«, sagte sie. »Der Keller läuft voll Wasser. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.«
»Julie?«, fragte ich.
»Sie ist gestorben, während du geschlafen hast«, sagte Syl. »Mach dich ein bisschen frisch, Miranda, ich geh schon mal rüber und sag’s den anderen.«
Ich hielt mein Tagebuch noch in den Händen. Ich war im Wintergarten eingeschlafen und hatte es nicht in meine Kammer zurückgebracht.
Syl hatte Julies Kopf mit ihrer Decke zugedeckt. Vor zwei Tagen ist Julie mit meinem Bruder in die Stadt gefahren. Jetzt ist sie auch nur noch eine der vielen Toten.
Ich ging in mein Zimmer, legte das Tagebuch in sein Versteck zurück und lief dann rüber zu dem, was einmal Mrs Nesbitts Haus gewesen war. Wir arbeiteten ohne Unterbrechung und machten nicht einmal Pause, um Lisa etwas zu essen zu bringen.
Das Wasser stand bereits hüfthoch, während Lisa und Gabriel den Keller durchquerten, um oben auf der Treppe auf ihre Rettung zu warten. Der Mond war schon aufgegangen, als Dad endlich die Kellertür aufstemmen konnte. Gemeinsam rannten sie durch die Trümmer, die sich zu beiden Seiten auftürmten.
Dad hat ihr dann wohl von Julie und Alex erzählt. Aber ich glaube, Lisa hatte es längst geahnt, denn am Ende war sie diejenige, die Dad tröstete, als er weinend neben ihr stand.
13. Juli
Gestern Nacht ist das Dach über Moms Schlafzimmer eingestürzt. Wir haben alle im Wintergarten geschlafen, deshalb wurde niemand verletzt.
Matt hatte Julies Leiche rausgetragen und im Esszimmer auf Jons Matratze gelegt. Wir spürten trotzdem ihre Gegenwart, ebenso wie die von Charlie. Und auch Mrs Nesbitt war wieder bei uns und all die anderen Menschen, die ich geliebt und verloren hatte.
Und dann kam Alex zurück.
Ich hatte es gewusst. Niemals hätte er Julie allein gelassen.
»Ich hab mich verirrt«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich war gar nicht so weit von hier, aber der Sturm hat mich so herumgewirbelt, dass ich jede Orientierung verloren habe. Wie lange war ich weg?«
Drei Tage, sagten wir ihm.
»Ich wusste nicht mehr, wo ich war«, sagte er. »Plötzlich bin auf diesen Leichenberg gestoßen. Die meisten Toten lagen auf den Feldern und auf der Straße verstreut, aber ich hab die Stelle trotzdem wiedererkannt, und dann konnte ich auch den Rückweg finden.«
Ich war aufgestanden und hatte mich neben ihn gestellt, um ihn zu halten, wenn er die nächsten Sätze von Dad hören musste. »Wir haben schlechte Nachrichten für dich, mein Sohn«, sagte Dad. »Julie ist gestorben. Vor zwei Nächten. Und Charlie einen Tag vorher.«
Ich spürte, wie ein Zittern durch Alex’ Körper lief.
»Sie war nicht allein«, sagte ich. »Wir haben sie keine Sekunde allein gelassen. Ich war bei ihr, als sie starb. Sie hat gebetet. Und wir haben über deine Mutter gesprochen, über Heilige, über den Himmel. Julie hat gesagt, im Himmel wäre alles voller Gemüsegärten, mit Tomaten und Stangenbohnen.«
In diesem Moment brach er zusammen. Was immer er an Kraft aufgebracht hatte, um den Sturm zu überstehen, das Jahr zu überstehen, schmolz in diesem Augenblick dahin. Er sank zu Boden und weinte, wie ich noch nie jemanden habe weinen hören.
Ich kniete mich neben ihn, hielt ihn fest und küsste ihn, aber sein Schmerz ging über alles, was ich tun oder sagen konnte, hinaus. Als er schließlich keine Tränen mehr übrig hatte, führte ich ihn ins Esszimmer, damit er mit seiner Schwester allein sein konnte.
Das ist jetzt schon Stunden her. Er ist immer noch dort. Der Rest von uns wechselt sich dabei ab, hier am Blumenbeet von Horton und drüben am anderen Haus von Charlie Abschied zu nehmen. Einer von uns ist immer bei Alex, um seine Hand zu halten oder mit ihm zu beten. Jon war am längsten bei ihm drin, aber Jon musste auch selbst noch Abschied nehmen.
Ich stand in der Tür und sah und hörte das alles. Ich hörte, wie Dad Alex erzählte, was passiert war. Ich weiß nicht, ob Alex das verstehen konnte. Er war nicht dabei, als Julie nichts mehr spürte, sich nicht mehr bewegen konnte. Wir versuchten ihm eine Farbe zu beschreiben, die er noch nie gesehen hat.
Mom betet nicht, aber sie kniete neben ihm nieder und legte ihm den Arm um die bebenden Schultern. »Morgen müssen wir aufbrechen«, sagte sie. »Wir gehen als Erstes Richtung Westen, wir alle zusammen. Wir machen halt,
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