Das Leben der Wünsche
ihrenSchenkel berührte. Von plötzlicher Zärtlichkeit für sie erfüllt, beugte er sich noch einmal über sie und wollte ihre Stirn küssen, traf jedoch die Nase. Erschrocken schnarchte Helen auf und drehte sich auf die Seite.
Es wurde halb eins. Er dachte an Apok und das Haus. Es wurde eins. Er dachte an die Jungen und daran, dass er mehr Zeit mit ihnen verbringen wollte. Die leuchtenden Zeiger des Weckers standen auf zwei. Er lag mit offenen Augen da. Er dachte an Marie. Würde dieses Haus sie voneinander entfernen?
Halb drei. Er zog sich an und steckte die Autoschlüssel ein.
6
Durch die Wolken schimmerte knöchern der Mond. Auf der ganzen Strecke sah Jonas weder Fußgänger noch andere Autos. Vor dem Haus seines Vaters schien das satte Geräusch der zufallenden Autotür die ganze Straße zu erfüllen. Während er das alte Gebäude betrachtete, legte sich die Nachtluft feucht und schwer auf seine Brust. Er klopfte gegen seine Hosentasche, in der der Wohnungsschlüssel klirrte.
Das Treppenhaus war schmutzig, an die Wände waren Parolen geschmiert, die meisten Glühbirnen brannten nicht. Es roch nach Essig. Vor der Tür stapelten sich Reklamezettel und Zeitschriften. Mit dem Fuß schob er den Haufen vom Vorleger in den Flur. Er schaltete Licht ein, doch nur die Lampe im Vorraum funktionierte.
Sich durch die dunkle Wohnung tastend, nahm er den Altmännergeruch wahr, der in der Luft lag, obwohl sein Vater seit einem halben Jahr im Heim war. Er hörte das Ticken einer Uhr, das ihm seit seiner Kindheit vertraut war. Im Schlafzimmer sah er die Umrisse der alten hölzernen Schränke. Die LED-Anzeige eines Videorecorders blinkte rot.
Eine Weile stand Jonas still. Nichts als die Wanduhr war zu hören. 0:00, 0:00, 0:00, unablässig blinkten die Ziffern am Videorecorder, sie blinkten für sich selbst, für die Dunkelheit, für den Tisch und für das Sofa und für das Nichts.
Auf dem Balkon setzte er sich in einen morschen Gartensessel, der unter ihm knackte. Leise nadelte der Regen auf die Bäume und Sträucher im Hinterhof, in dem Jonas als Kind gespielt hatte. Nirgends brannte Licht. Wolken zogen grau und zerrissen über den Himmel. Den Mond und Jonas, sonst gab es nichts.
Das Telefon läutete.
Es war drei Uhr früh. Sein Vater hatte keine Freunde. Seine wenigen Bekannten wussten, dass er nicht mehr hier lebte.
Nach einigen Minuten läutete es wieder. Jonas rührte sich nicht.
Er schaute in den Himmel. Er rückte den Stuhl zurück an die Wand, damit seine Schuhe nicht nass wurden. Wieso war er nicht müde? Nach so einem Tag?
Das Telefon läutete abermals. Auf dem Weg in den Flur schlug sich Jonas zweimal das Knie an. Als er vor dem Regal stand, war es zu spät. Er nahm das Schnurlosteil mit sich auf den Balkon.
Er blickte hinauf in den versteinerten Himmel. Der Regen wurde stärker. Jonas rieb sich die nackten Arme. In den Zimmern suchte er nach etwas zum Anziehen, er fand nichts Passendes. Gerade als er eine Decke aus dem Schrank zog, dessen Tür in den Angeln kreischte, hörte er das Klingeln erneut.
Auf dem Balkon muss es jetzt wunderbar sein. Sieht man Sterne?
Du? Was machst du denn um diese Zeit?
Sitzt du draußen?
Du gehörst ins Bett! Was sind denn das für Leute, die jemanden wie dich nachts rumlaufen und telefonieren lassen?
Hast du gehört, dass es heute Nacht eine Mondfinsternis gibt?
Ist jemand bei dir? Bist du allein?
Ich kann von hier die Sterne nicht sehen.
Die Verbindung wurde unterbrochen. Jonas steckte das Telefon zurück in die Ladestation.
Die Wolken vor dem Mond zogen weiter. Rund und hell stand er am Himmel. Jonas sah, wie sich von der linken Seite her etwas Dunkles über die Scheibe legte. Nach wenigen Minuten war ein Viertel des Mondes nicht mehr zu sehen, bald darauf die Hälfte. Nach kaum einer halben Stunde war er vollständig verdunkelt.
7
Jonas schaute unter der Decke hervor, als Helen ihren Wecker abstellte, durch die Jalousien einen Blick nach draußen warf, ihr Nachthemd auszog und ins Bad ging. Er sah noch ihren weiß leuchtenden Po und drückte das Gesicht gleich wieder in das nachtwarme Kissen. Er hörte, wie sie in der Küche Kaffee machte, kurz darauf roch er es. Er hörte eines der Kinder rufen, gefolgt von Getrappel auf dem Fußboden.
Helen schlich zurück ins Zimmer und legte die Kleidung für die Jungen heraus. Als sie sich verabschiedete, um ihm die Kinder zu überantworten, tat er so, als sei er aus dem Tiefschlaf geweckt worden. Diese Schlaflosigkeit
Weitere Kostenlose Bücher