Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
gab ihm ein Rätsel auf, das er mit Helen lieber nicht besprechen wollte.
     
    Im Zeitschriftenladen kaufte er bei der Frau mit den Tintenfingern sämtliche Zeitungen, die auf der Titelseite ausführliche Berichte über das Seilbahnunglück ankündigten. Schon immer hatten ihn derartige Katastrophen mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination erfüllt. Es war, als zwänge ihn etwas, möglichst viel über die Opfer zu erfahren und sich ihr Leben vorzustellen, das auf so brutale Art zu Ende gegangen war.
    Haben Sie jemanden gekannt? fragte die Verkäuferin und nickte zu den Zeitungen, die er in angemessener Entfernung zu ihren Händen emporhielt.
    Ich will es nicht hoffen.
    Eine Kundin erzählte heute Morgen, eine Frau in ihrem Haus hatte eine Arbeitskollegin, die in der zweiten Gondel war.
    Ich glaube, bei uns im Haus fehlt niemand.
    Sie zuckte zusammen, ihr Blick wurde hart.
    Das war ein Scherz, sagte er.
     
    Im Büro ging Jonas das missglückte Gespräch mit der Verkäuferin nicht aus dem Kopf. Er suchte nach einer passenden Überschrift für den Autowäschereiprospekt, ihm fielen aber nur Albernheiten ein. Er rief seinen Aktienstand ab. Nach dem unglaublichen Erfolg des Vortages erwartete er ein Minus, doch erneut waren seine wichtigsten Papiere im Wert um mehr als fünf Prozent gestiegen.
    Er schickte Anne eine SMS. Sie schrieb zurück, sie sei auf dem Weg zum Arzt. Was Neues? schrieb er. Sie: Weiß ichs vorher? Er: Dann sags mir nachher.
    Am rechten unteren Bildrand seines Monitors blinkte ein Icon. Eine Einladung zu einem Chat, von Werner.
    Werner Weltumsegler: Heiliges Kanonenrohr! §$%¢Ω∫°˩˩˩!!!!
    JP: Was willst du mir mitteilen?
    Werner Weltumsegler: Das ging daneben!
    JP: Was konkret?
    Werner Weltumsegler: Ich arbeite seit vier Wochen an diesem Projekt. Ich habe den Kunden sechsmal getroffen, habe die Werbelinie skizziert, ich habe mit Wolf alles besprochen, und jetzt schicke ich ein Angebot raus, das um zehn oder zwölf Prozent zu niedrig ist, weil ich die Materialkosten schlicht vergessen habe!
    JP: Verstehe kein Wort.
    Werner Weltumsegler: Dieses Angebot ist verbindlich. Ich habe Electro Begin gerade viel Geld geschenkt.
    JP : Und wie kam das?
    Werner Weltumsegler: Was weiß ich. Urlaubssehnsucht. Fremdhass. Selbsthass. Das Wetter. Der Asteroid!
    JP: Das hat Konsequenzen, meinst du?
    Werner Weltumsegler: Mach mir nur Mut. Log off, ich gehe heim. Vielleicht merkt es ja gar niemand.
    JP: Eine Sekunde! Wann hast du die E-Mail weggeschickt?
    Werner Weltumsegler: Na vorhin!
    JP: Wann vorhin?
    Werner Weltumsegler: Vor zehn Minuten. Wieso?
    JP: Du weißt doch, wie alt der Server ist! Die E-Mails hängen oft in einer Warteschleife. Die ist noch gar nicht draußen!
    Werner Weltumsegler: Bin ich Netzwerktechniker? Das hilft mir auch nichts. Ich kann nicht zum Chef gehen und ihm sagen, bitte halten Sie diese E-Mail auf. Ja, er hält sie wahrscheinlich auf. Aber was ich dann erlebe, kann ich mir vorstellen. Vielleicht hilft es, wenn ich morgen mit dem Chef von denen rede.
    JP: Unternimm nichts. Bleib sitzen. Warte, bis du wieder von mir hörst.
     
    Der Raum, in dem der Zentralcomputer stand, war leer, es roch nach Pizza. Jonas schloss die Tür. Es steckte kein Schlüssel.
    Jonas setzte sich auf den ledernen Drehsessel, der unter seinem Gewicht knirschte. Auf dem Schreibtisch quollen Zigarettenstummel aus einem Aschenbecher, daneben lagen ein Waffenmagazin und ein Springmesser. In einer Ecke tschilpte ein Kanarienvogel in einem Käfig, in der anderen rasselte ein Hamster im Laufrad.
    Jonas schob die Plastikabdeckung von der Tastatur. Was um alles in der Welt hatte ihm diese Idee eingegeben? Wenn jetzt die Tür aufging, war er seinen Job los.
    Administratorrechte hatte Jonas nicht, doch Wolf war nicht sonderlich geschickt dabei, sein Passwort zu verbergen, er tippte so umständlich, dass Jonas kein zweites Mal hatte zusehen müssen, es lautete Alice .
    Alt war nicht nur der Server, sondern auch der Computer. Der Bildschirmschoner schaltete sich erst nach einer halben Minute ab, die Jonas in zunehmender Angst mit der Frage verbrachte, was er tun sollte, wenn der Computer abgestürzt war und neu hochgefahren werden musste. Während er Richtung Tür lauschte und sich überlegte, ob er im Fall des Falles schnell genug unter dem Schreibtisch verschwinden würde, um einige Sekunden zu gewinnen, in denen es sich der Eintretende wie durch ein Wunder noch einmal überlegen und umdrehen könnte, zuckten seine

Weitere Kostenlose Bücher