Das Leben der Wünsche
Seitenscheitel vor sich, der so pedantisch ausgerichtet war, dass viele argwöhnten, er trage ein Toupet. Der? Konnte er sich nicht vorstellen. Doch wer wusste schon, was in den Leuten vorging.
Es kommt ein Neuer, sagte Ophelia. Du weißt wirklich nichts?
Er schüttelte den Kopf.
Oder eine Neue, aber das bezweifle ich. Es soll jemand von außen werden. Oder vielleicht du?
Dir ist noch nie aufgefallen, dass ich nicht gern arbeite? fragte er.
Na eben.
Sie ließ ihn allein, denn zwei Kollegen hatten ihre Laptop-Taschen auf ihre Schreibtische geworfen und mussten über die Bedeutung der Schaumküsse aufgeklärt werden. Jonas warnte Werner per SMS, er solle ein Geschenk besorgen. Anne schrieb er, sie könnten am Abend essen gehen.
Siad kommt. Aber danke.
Noch vor der Mittagspause fuhr er zu der Schule, die ihm Ninas Schwester empfohlen und deren Homepage ihn überzeugt hatte. Es schien sich um eines jener Institute zu handeln, in denen Sechsjährige noch nicht in eine Knochenmühle gezwungen wurden, jedenfalls versprach das sinngemäß das Informationsblatt, das er im Vorzimmer der Direktion las.
Tom wird nächstes Jahr fünf, sagte er.
Anmelden, sagte die Direktorin.
Jetzt schon?
Wir sind fast voll. Schon jetzt.
Sie machte mit ihm einen Rundgang. Mangels Vergleichsmöglichkeitenwusste er nicht, ob das, was er zu sehen bekam, außergewöhnlich oder die Norm an Grundschulen war, doch die spielerische Atmosphäre, die große Bibliothek, die Zeichnungen an den Wänden gefielen ihm gut, so wie ihm auch die Direktorin gefiel. Sie war in seinem Alter und sah eher aus wie eine Rennfahrerin. Ihm kam ein Gedanke.
Die Honda vor der Tür, ist das Ihre?
Gebraucht gekauft.
Wieso wird man Grundschullehrerin?
Erst wird man Lehrerin. Und das wird man, weil es einem Freude macht.
Zuletzt durfte er sogar am Unterricht teilnehmen. Die Lehrerin machte einen Witz über den Mann in der letzten Reihe, die Kinder lachten, und damit war die Sache erledigt. Er saß auf einem viel zu kleinen Stuhl und hörte zu.
Er schaute auf die kleinen Köpfe, die der Lehrerin zugewandt waren, und stellte sich Tom und Chris hier vor. Den blonden und den dunklen Haarschopf. Wie die beiden hier eines Tages an Bleistiften kauen und mit Plättchen rechnen lernen würden.
Helen. Wie würde Helen die Schule gefallen?
Als er im Büro mit Broschüren und den Kopien zweier unterschriebener Anmeldeformulare in den Händen einigen Pfützen von unbekannten Flüssigkeiten auswich, war die Party bereits verpufft. Popmusik dudelte noch schwach aus einem Handy, das jemand auf einen zentralen Schreibtisch gelegt hatte. Eine kleine Gruppe um Werner stand mit Ophelia beisammen, die sich in einem Stadium der Auflösung befand und mit allen tanzenwollte. Die anderen hatten ihre Plastikbecher an den Platz mitgenommen oder waren überhaupt gegangen.
Giovanni hielt Jonas einen Becher hin. Der schüttelte den Kopf. Er fragte sich, was mit Werner los war, der mit feuchten Augen vor sich hin starrte.
Alles in Ordnung? fragte Jonas halblaut.
Ich habe mit Anne telefoniert. Was meinst du, wie lange …
Werner beendete den Satz nicht, sondern tauchte mit dem Kopf in seine Kapuze und verschwand Richtung Toilette.
Zwischen den lahm Feiernden und Sondheimer, der gerade im Chatroom eine dreißigjährige Krankenschwester mimte, begann Jonas an seinem Schreibtisch wieder über die Anzeige nachzudenken. Mit einem Ohr hörte er die scharfzüngigen Bemerkungen, die Sondheimer machte, und manchmal musste er trotz seiner Melancholie lachen, besonders als die Krankenschwester einem Hypochonder mit regelmäßigen Unterleibsschmerzen zusetzte.
Sondheimer, Sie sind grausam zu den Leuten! rief Hektor.
Irrtum, sagte Sondheimer. Das sind sie schon selbst.
Zwei. Halb drei. Ophelia tanzte, allein.
Eine Rundmail der Geschäftsleitung, sie sammelten Ideen für Fernsehsendungen.
Partys filmen, schrieb Jonas. Reality-TV. Der Zuseher sitzt zu Hause, isst Kartoffelchips und fühlt sich weniger allein. Wir sehen Peter und Sarah beim Flirten, beim Trinken, beim Tortenanschneiden und beim Tanzen. Musik, Sekt, Hinterzimmer, Besenkammer, es wird gelästert und geknutscht. Zusätzlich eine parallel laufende Radiosendung, in der Fernsehzuseher das Geschehen auf der Party kommentieren. Wir sind alle eine Familie. Und Werbung läuft in Radio und Fernsehen zur gleichen Zeit.
Eine Weile schon stand jemand neben ihm. Er hatte gedacht, er oder sie würde sich nur eine Grafik holen und
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