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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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hatte er es ihr auch gesagt: Ich gehe. Und sie hatte gelacht. Und es nicht geglaubt.
    Was war los? fragte er. Warum bin ich hier?
    Das musst du schon selber wissen!
    Warum ist das so, dachte er. Warum war und ist es mit ihr so, wie es mit Helen war? Warum vergeht oder zerbrichtdas Wichtigste? Warum ist es bei Anne so gekommen? Warum wäre es bei Helen so gekommen? Und warum will mich die eine nicht, mit der es hätte anders sein und anders bleiben können?
    Wir sind müde, sagte er, wir sind gereizt. Noch während er es sagte, fiel ihm auf, wessen Sprechweise er angenommen hatte.
    Anne war der Morgenmantel aufgegangen. Er sah ihre rechte Brust. Anne bemerkte seinen Blick, aber sie blieb sitzen, wie sie war, wohl nicht, um ihn zu provozieren, sondern weil sie müde war. Er schaute weg.
    Komm schon, was war heute Nacht los? fragte er. Ich dachte, mit dir geht es zu Ende!
    Ein Gefühl von Scham durchzuckte ihn. Er hatte etwas Verbotenes gesagt. Aber schon in der Sekunde darauf bereute er es nicht mehr. Sie durfte und sollte wissen, welche Sorgen er sich um sich machte und wie schwierig es war, darüber nicht sprechen zu können.
    Nein, mit mir geht es noch nicht zu Ende. Warten wir ab.
    Ich dachte, du weißt nicht, was die Ärzte sagen, weil du nie fragst?
    Ich weiß, was die Ärzte sagen. Bloß darüber reden mag ich nicht.
    Ach so?
    Sie sahen einander an. Sie sah zuerst weg. Sie rieb sich die Augen.
    Tut mir leid. Heute Nacht, das war … Siad möchte mit mir zusammen sein. Mir kommt das lächerlich vor. Wofür denn? Sich noch kurz kennenlernen? Und gerade wenn man so richtig neugierig ist, wie es werden könnte, ist es vorbei?
    Es ist doch ganz einfach, sagte Jonas. Willst du es? Willst du es nicht trotzdem?
    Als ob du immer genau wüsstest, was du willst!
    Er lehnte den Kopf gegen die Wand und sah Anne an.
    Keine Ahnung, was ich will, sagte sie leise. Keine Kraft mehr für Entscheidungen. Möchte mich nur noch fallen lassen.
    Er schwieg.
    Blitzschnell, ohne dass er damit gerechnet hätte, nahm sie das Kopftuch ab. Zum ersten Mal seit langer Zeit sah er wieder ihr Haar. Es war kurz, manche Stellen an den Seiten waren kahl, dort wuchs es offenbar nicht mehr nach.
    Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. Schaute weg.
    Zu sterben ist keine Schande, sagte sie.
    Er sah durch das offene Fenster auf die Straße und hörte zu, wie die Stadt erwachte. Bewusst lauschte er jedem Hupen, jedem Motorengeräusch, jedem Kinderlachen hinterher, er ließ es in sich nachschwingen, das ist die Welt, das ist der Alltag, so leben wir, das ist das Sein.
     
    Sie weinte. Er setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm. Von ihrem Bademantel stieg frischer Lavendelduft auf, ihm so vertraut wie die Umgebung. Er verstand nicht, was sie sagte, die Worte kamen nur noch stockend und undeutlich.
    Wenn die Buddhisten recht hatten, dachte er, während er sie hielt, wenn all jene recht hatten, die an ein Weiterleben nach dem Tod glaubten, dann wünschte er sich nur, in einer vollkommen anderen Welt als dieser wiedergeboren zu werden. Sie sagten, man dürfe sich dieser Welt nicht verweigern, es hatte einen Grund, warum manin dieser gelandet war. Ob es eine Belohnung oder eine Strafe war, sagten sie nicht.
    Er wollte nie, nie, nie wieder in diese Welt zurück. Aber, wenn irgendwo ein Platz frei war, gern in eine andere.

29
    Auf seinem Schreibtisch lagen drei Schaumküsse. Ophelia griff in eine große Schachtel und legte zwei auf einen anderen Schreibtisch.
    Ich habe Geburtstag, erklärte sie bemüht beiläufig.
    Er gratulierte ihr mit allem Schwung, den er an diesem Morgen noch aufbrachte. Insgeheim dachte er mit Unbehagen an das Gelage, das zu diesem Anlass unweigerlich angezettelt werden würde, zumal die allerschlimmsten Wüstlinge aus dem Urlaub zurück waren. Am liebsten wäre er gleich wieder nach Hause gefahren und hätte sich noch einmal ins Bett gelegt, denn er war so müde, dass ihn die Kiefer schmerzten. Doch er musste sich schon zum dritten Mal mit der Autowaschanlage auseinandersetzen.
    So früh habe ich dich hier noch nie gesehen, sagte Ophelia und lehnte sich gegen seinen Schreibtisch.
    Ich mich auch nicht, glaube ich.
    Weißt du es schon? fragte sie.
    Nein, sagte Jonas.
    Dass Wolf …?
    Nein, sagte Jonas.
    Dass Wolf wahrscheinlich gehen muss? Oder vielleicht schon gegangen ist? Er soll mit Jungs erwischt worden sein.
    Woher hast du das denn?
    Sie lächelte. Sage ich nicht. Aber es stimmt.
    Jonas sah den schnauzbärtigen Wolf mit dem

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