Das Leben der Wünsche
gesehen. Es war, als hatte sich ein lokaler Krieg ereignet, eine Vendetta oder eine Naturkatastrophe.
Ob so etwas am Ort lag? Gab es Orte, an denen früher gestorben wurde? Konnte man es statistisch erheben, und lohnte es sich, diese Orte zu meiden? Und warum wurde dort so früh gestorben? Umwelteinflüsse? Metaphysik?
Anne kam ihm in den Sinn. Er stieß einen Wehlaut aus, so schwermütig war er plötzlich, so große Angst hatte er, sie bald an diesen Ort zu verlieren. Er rief sie an, sie hob nicht ab. Er schickte ihr eine SMS: Bitte melde dich!
Er ging zu seinem Rucksack zurück, den er an Helens Grab liegen gelassen hatte. Einige Sekunden stand er vor ihrem Bild. Die Tränen ließ er laufen, das Schluchzen kämpfte er nieder. Er küsste seine Handfläche und blies den Kuss in Richtung des Grabsteins, kam sich aber gleichdarauf vollends lächerlich vor. Er nahm den Rucksack, trank noch einen Schluck Wein und ging zum Ausgang.
Beim Anblick des Gasthauses musste er daran denken, wie er im Garten mit Kim gesessen und ihn ausgefragt hatte. Es erschien ihm weit weg. Er empfand Milde für ihn, er tat ihm leid. So ein Ende wünschte er niemandem.
Wohin fahren? Nach Hause wollte er nicht, er wollte unter Menschen sein. Die Kinder waren seit sieben Tagen mit Lea und Frank in den Bergen und würden noch eine Woche bleiben. Er hatte Zeit, er wusste bloß nicht recht, was er mit ihr anfangen sollte.
Er rief Werner an. Der war mit Evie irgendwo auf dem Land. Er versuchte es noch einmal bei Anne und hinterließ ihr eine weitere Nachricht. Nina? Besser nicht, womöglich kam sie auf falsche Gedanken. Ich bin nicht verliebt in dich, hatte er gesagt, schon in ihrem Bett, er wollte ehrlich sein, und sie: Nobody’s perfect.
Er parkte den Wagen in der Tiefgarage und setzte sich in den Park. Neben ihm rauchten ein paar junge Leute einen Joint. Eine blonde Frau mit Rastalocken warf ihm einen Blick zu, sie wirkte älter als die Jungen, mit denen sie sich den Joint teilte. Die Gruppe lachte laut. Einer begann auf einer Gitarre zu klimpern.
Jonas wechselte auf eine andere Bank. Es war jene, auf der er mit dem Mann gesessen hatte, der ihm mit den drei Wünschen gekommen war. Er zog die Mappe aus dem Rucksack, die er ursprünglich schon auf dem Friedhof hatte auspacken wollen. Vorne stand in Handschrift Helens Name. Mit einer Zange brach er das kleine Schloss auf und sah nach, was sie am 31. Dezember des Jahres geschrieben hatte, in dem sie zusammengekommen waren.
Bester Freund/beste Freundin: Lea
Gesundheit (1–10): 8
Glück: 10 (Jonas!)
Liebe: 10
Sex: 10
Beruf: 5
Erreichte Ziele: ausgeglichener geworden
Vorhaben fürs neue Jahr: mir selbst treu bleiben
Auf dem Foto, das sie in die rechte obere Ecke geklebt hatte, sah sie auf eine so ungeschickte Art jung aus, dass Jonas gerührt lächelte. Wie lange war das her? Nicht ganz sechs Jahre. Sechs Jahre waren eine lange Zeit.
Er überflog den Fragebogen vom Silvester darauf. Der nächste stammte aus dem Jahr, in dem Tom geboren worden war.
Bester Freund/beste Freundin: Lea
Gesundheit (1–10): 10
Glück: 10 (Tom!)
Liebe: 9
Sex: 7
Beruf: 0
Erreichte Ziele: das beste Kind der Welt geboren zu haben
Allgemeine Stimmung: 7
Optimismus fürs neue Jahr: 8
Vorhaben fürs neue Jahr: einen neuen Job finden
Schließlich das Jahr, in dem Chris zur Welt gekommen war, ihr Spiralenkind. Im Schnitt hatte sie zwei Punkte weniger gegeben als im Jahr davor. Auf dem Foto sah siedeutlich älter aus, sie wirkte verbraucht, die Augen waren matt. Das allerdings hatte sich alles wieder gebessert.
Er blätterte nach hinten. Den letzten Fragebogen hatte sie vor knapp neun Monaten ausgefüllt. Also bevor sie Kim begegnet war, wenn der die Wahrheit gesagt hatte, woran Jonas nicht zweifelte.
Bester Freund/beste Freundin: Jonas
Gesundheit: 5
Glück: 3
Liebe: 6
Sex: 3
Beruf: 3
Erreichte Ziele: –
Allgemeine Stimmung: 4
Optimismus fürs neue Jahr: 3
Vorhaben fürs neue Jahr: etwas zu finden, das mich erfüllt und in dem ich ich sein kann
Jonas warf die Mappe neben sich auf die Bank.
Eine SMS von Anne, sie sei gerade erst aufgewacht und würde sich am Abend melden. Eine SMS von Werner, sie seien auf dem Weg zurück in die Stadt, ob er bei ihnen zu Abend essen wolle. Er schrieb: Ja , und drückte auf Senden.
Hinter ihm plätscherte der Brunnen. Die jungen Leute setzten sich mitten auf den Weg, wo sie die Vorbeigehenden behinderten. Jonas fing wieder einen Blick
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