Das Leben der Wünsche
Hand durch hohe Halme am Wegrand. Noch während der Wagen ausrollte, nahm sie die Füße vom Armaturenbrett und schlüpfte in ihre Sneakers.
Ich glaube, hier war ich schon mal, sagte sie.
Jonas stieg aus und streckte sich. Die Luft war kühler als in der Stadt, es roch nach Wald, nach Moos, nach Tieren. In der Nähe schnarrte ein Vogel. Gedämpft drang das Geräusch der Autos von der Landstraße zu ihnen herauf. Er wollte seine SMS abrufen, doch der Akku war leer, und er warf das Telefon auf den Fahrersitz. Marie nahm seine Hand. Wie selbstverständlich ging sie neben ihm her, ohne zu fragen, was sie hier suchten.
Der Schutt auf der illegalen Müllhalde war weiter angewachsen. Jonas zählte zumindest zwei Kühlschränke, die beim letzten Mal noch nicht zwischen dem anderen Gerümpel gelegen hatten. Marie schüttelte nur den Kopf.
Sie wanderten über die Ebene und durch das kurze Waldstück, bis sie an jene ausgesetzte Stelle gelangten, an der der Bergpfad begann. Jonas wurde ein wenig mulmig, als er in die Tiefe schaute, und noch mehr, als sein Blick dem Pfad folgte. Er konnte kaum glauben, dass er hier gelaufensein sollte, über diesen steilen, gefährlichen Weg. Es schien ihm eine Ewigkeit her.
Da hinauf? fragte Marie. Das ist eine Herausforderung!
Willst du es lieber sein lassen?
Bist du verrückt? Was denkst du denn! Hast du deine Kamera dabei? Ich will Fotos von mir, wie ich mich, vor Angst bebend, an Felsen klammere!
Lange konnten sie nicht nebeneinandergehen, und Jonas übernahm die Führung. Er warnte sie vor locker sitzenden Steinen oder einem leicht aussehenden, doch tückischen Band. Der Boden war indes weit fester als beim letzten Mal, es hatte länger nicht geregnet, und auch jetzt waren keine Wolken zu sehen.
Dein Rücken ist knallrot, rief Marie, zieh dein Hemd wieder an! Wie weit ist es noch?
Gute halbe Stunde! Willst du zurück?
Es gibt kein Zurück!
Je steiler es wurde, desto weniger redeten sie. Für Jonas war es verwirrend, mit Marie auf diesem Weg zu wandern. Wenn er an damals dachte, schauderte ihn, und es war, als vergewisserte er sich nun mit jedem Schritt, dass dies hier existierte, dass er nicht einen Albtraum mit Schemenmenschen erlebt hatte, sondern seiner Erinnerung trauen konnte und musste und dass er nun, mit Marie bei sich, die Dämonen in ihre Löcher zurücktrieb.
Als sie um jenen Felsvorsprung bogen, hinter dem es nur noch wenige Meter bis zu dem Platz waren, an dem das Abenteuer mit den fremdartigen Kreaturen so schrecklich geendet hatte, tat er so, als sei er außer Atem. Er stemmte die Hände auf die Knie und schnaufte, um nicht gleich weitergehen zu müssen.
Sieh mal! rief Marie.
Sie zeigte ins Tal. Jonas konnte nichts erkennen, weil es im Felsenkessel zu dunkel war, und nahm die Sonnenbrille ab. Der Adler zog wieder seine olympischen Kreise.
Das bin ich, sagte er.
Das wärst du gern, sagte sie. Das wären wir alle gern.
Auch wahr.
Was ist mit dir? Schwindel?
Es ist nichts. Nein – warte noch!
Alles in Ordnung mit dir?
Er gab ihr ein Zeichen voranzugehen. Die Bilder drangen nunmehr mit solcher Intensität auf ihn ein, dass er immer wieder zauderte. Er sah die zwei Männer, er sah die Frau liegen, und ihm war, als hörte er den Donner und sah ringsum die Blitze leuchten. Hier war es, dachte es unablässig in ihm, hier war es, hier war es. Er erinnerte sich an das Gefühl tiefer Hilflosigkeit und Sehnsucht, als sich der Mann am Ende über die Frau gebeugt und sie Jonas in ihren letzten Sekunden angesehen hatte, um ihn schließlich alleine zu lassen.
Was ist mit dir, rief Marie, du hast ja Gänsehaut!
Der Wind!
Sie blickte ihn belustigt an. Gib zu, du hast Höhenangst!
An der Felsnische tat er so, als sei ihm ein Schnürsenkel aufgegangen. Scheu betrachtete er die Inschrift. Er hatte sie sich nicht eingebildet.
Zwei Minuten später standen sie keuchend auf dem höchsten Punkt. Marie legte sich auf den in der Sonne glitzernden Felskopf und stieß einen Freudenschrei aus, der hell in die Weite hinausschallte. Jonas hockte sich neben sie. Sie packte ihn am Arm und zog ihn über sich. Wie ein Sack fiel er auf sie, sie ächzte, beide lachten. Er legte sich neben sie.
Schwach hörte er die Autos auf der Autobahn, die sich an einem fernen Berg vorbeiwand, als gleichmäßiges ungefährliches Rauschen. Hoch oben zog ein Zeppelin mit einer Limonadewerbung über sie hinweg. Er roch Maries Schweiß. Es war ein angenehmer Geruch.
Er erinnerte sich, wie er Marie das
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