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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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sondern auch sämtliche anderen Vorfahren.) Unsere gesellschaftliche Stellung in der Stadt beruhte mehr als die anderer Familien auf unserer Geschichte und unserer Verbundenheit mit dem Land.
    Die Dickersons dagegen waren wenige Jahre zuvor in der Stadt gestrandet (so pflegte meine Mutter das auszudrücken). Wir erfuhren, dass sie aus einem anderen Bundesland kamen, und obwohl sie in einem heruntergekommenen einstöckigen Haus an der Landstraße wohnten, das sie gekauft hatten, wusste doch jeder, dass sie eigentlich nicht aufs Land gehörten. Dana hatte noch einen älteren Bruder, Ray, einen schlaksigen blauäugigen Jungen, der im Schulbus Mundharmonika spielte und einmal von sich reden machte, indem er sich in der großen Pause im Schulhof auf den Rücken legte und mit leerem Blick gen Himmel starrte, als sei er aus dem Fenster gesprungen. Die Pausenaufsicht hatte schon den Direktor beauftragt, einen Krankenwagen zu rufen, als Ray plötzlich so gelenkig wie ein Gummimännchen aufsprang und übers ganze Gesicht grinste. Obgleich ein Scherzbold und Unruhestifter, war Ray bei allen beliebt, vor allem bei den Mädchen. Seine Dreistigkeit erstaunte und faszinierte mich immer wieder.
    Mr Dickerson war angeblich Schriftsteller und arbeitete an einem Roman, aber bis er mit dem Geld verdienen konnte, war er häufig unterwegs; meine Mutter vermutete, dass er als Bürstenvertreter tätig war. Valerie Dickerson bezeichnete sich als Künstlerin, was meine Mutter nicht guthieß, denn sie war der Überzeugung, dass eine Frau mit Kindern nur die häuslichen Künste gut beherrschen sollte.
    Dennoch bestand meine Mutter darauf, dass wir Dickersons jedes Mal, wenn wir in die Stadt fuhren, einen Besuch abstatteten. Sie brachte dann Gebäck mit oder je nach Jahreszeit Maiskolben oder eine Schale frisch gepflückter Erdbeeren mitsamt Biskuitküchlein, noch warm vom Ofen. (»Valerie Dickerson wäre es doch glatt zuzutrauen«, sagte meine Mutter, »dass sie für Erdbeertörtchen Sprühsahne benutzt.« Dass Val Dickerson ihr womöglich Erdbeertörtchen gänzlich ohne Sahne, frisch oder aus der Dose, servieren könnte, schien die Vorstellungskraft meiner Mutter zu überschreiten.)
    Bei den Besuchen trug meine Mutter gewöhnlich ein schlichtes Schürzenkleid und den blauen Pullover, den sie in meiner Kindheit ständig anhatte; Val dagegen war die erste Frau, die ich jemals in Jeans sah. Bei ihr gab es bestenfalls Rührkaffee. Sie schien auch nie sonderlich begeistert zu sein, wenn wir kamen, machte meiner Mutter aber dennoch eine Tasse Kaffee. Ich bekam ein Glas Milch oder – weil Dickersons fanatisch auf gesundes Essen achteten – einen Saft aus verschiedenen Gemüsesorten, die in einer Maschine herumgewirbelt wurden, von der Mr Dickerson behauptete, sie sei der kommende Renner nach der elektrischen Bratpfanne. Ich hatte gar nicht gewusst, dass die elektrische Bratpfanne so eine fantastische Errungenschaft war.
    Dann zogen Dickersons weg, und man hätte glauben können, dass damit die Verbindung zu meiner Familie abgerissen wäre. Doch dem war nicht so. Von all den Menschen, die über die Jahre in unserem Leben auftauchten und wieder verschwanden – Farmhelfer, Kunden am Verkaufsstand, sogar Verwandte aus Wisconsin –, achtete meine Mutter darauf, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Es war, als sei diese Beziehung mit einer besonderen Magie verbunden, weil Dana und ich am selben Tag geboren waren.
    »Ich frage mich, ob Dana jemals irgendwas außer Nüssen und Beeren zu essen kriegt«, sagte meine Mutter einmal. Inzwischen wohnten Dickersons in Pennsylvania, aber sie waren gerade auf der Durchreise, und da Erdbeersaison war, machten sie an unserem Verkaufsstand halt. Dana und ich müssen damals neun gewesen sein, und Ray war dreizehn und schon so groß wie mein Vater. Ich kam gerade mit einem Korb voller Erbsen, die ich vormittags gepflückt hatte, zum Stand zurück, als er mich bemerkte.
    »Malst du noch Bilder?«, fragte er. Seine Stimme klang tiefer, als ich es in Erinnerung hatte, aber seine Augen waren unverändert, und er schaute mich so ernsthaft an, als sei ich ein richtiger Mensch und nicht bloß ein kleines Mädchen.
    »Das da hab ich im Auto gelesen«, sagte er dann und reichte mir eine aufgerollte Zeitschrift. »Dachte mir, es gefällt dir vielleicht.« Die Mad . Meine Lieblingszeitschrift, die bei uns zuhause verboten war.
    Bei diesem Besuch damals – dem ersten in einer fast jährlichen Tradition von Erdbeer-Treffen –

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