Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
miteinander anfangen (sie war wild und ungestüm, und ich interessierte mich hauptsächlich für Kunst), aber meine Mutter meinte, wir sollten nach oben gehen und spielen. Ich schlug Dana dann vor, dass sie mir ihre Barbies zeigen sollte; meine Mutter hielt gar nichts von der Barbie, wegen ihrer Figur und der freizügigen Kleider, die Mattel für sie entwarf, und hätte natürlich für so etwas ohnehin kein Geld ausgegeben.
Dana lag offenbar nichts an Puppen, aber Valerie schenkte ihr ständig neue, mitsamt zahllosen Original-Outfits. Die meisten Mädchen bei mir zuhause besaßen nur Barbie-Kleider, die von Müttern und Großmüttern genäht oder gehäkelt oder auf dem Kirchenbasar gekauft worden waren.
Die Original-Outfits trugen alle Namen, die ich aus dem Katalog kannte. Am liebsten mochte ich »Solo im Rampenlicht«, ein trägerloses Abendkleid mit Strass auf dem Volant. Dazu gehörte ein Standmikrofon aus Plastik für Barbies Auftritte in Nachtclubs.
Einmal, als Dana aufs Klo ging, steckte ich das Abendkleid schnell in die Tasche. Dana waren diese Sachen so egal, dass sie es nicht einmal merkte. Aber als wir aufbrachen, legte Ray mir den Arm um die Schulter, raunte mir ins Ohr »Du hast was vergessen« und reichte mir ein sonderbares Päckchen. Es bestand aus mehreren Lagen Toilettenpapier und war mit Klebeband umwickelt. Später im Auto öffnete ich es. Barbies Mikrofon.
Das ganze Jahr über dachte ich an Ray. Ich fragte mich, woher er das gewusst hatte – aber mir war natürlich schon damals klar, dass er über magische Fähigkeiten verfügte. Doch noch mehr beschäftigte mich die Frage, wieso Ray, der so gut aussah und so viel älter war als ich, mir diesen kostbaren Gegenstand gegeben hatte.
Als wir im nächsten Frühjahr zu Dickersons aufbrachen, hatte ich auch ein Geschenk für Ray dabei: eine Mundharmonika mit Perlmutt, die ich ihm von dem Geld kaufte, das ich mit Erdbeerpflücken verdient hatte. Aber Ray – für mich die Hauptattraktion dieser Reise – war irgendwo mit seinem Einrad unterwegs, so dass ich ihn gar nicht zu Gesicht bekam. Während ich oben bei Dana war, unterhielten sich meine Eltern unten mit Valerie über irgendwelche Bekannte von uns, die Val nichts bedeuteten, und meine Mutter erkundigte sich nach dem Stand von Danas religiöser Erziehung. Sie hatte eine Kinderbibel als Geschenk mitgebracht.
»Das ist so eine nette Idee von dir, Connie«, sagte Valerie. »Ich wünschte, ich könnte euch noch Abendessen machen, aber ich habe einen Zeichenkurs.«
»Einen Zeichenkurs, für eine Frau ihres Alters«, sagte meine Mutter zu meinem Vater, als wir nach einem Glas Limonade wieder auf der Heimfahrt waren. Mein Vater saß aufrecht am Steuer und wandte den Blick nicht von der Straße. »Was denkt sie sich?«
»Ich nehme an, dass sie Talent hat«, erwiderte er. Dann, nach einem kurzen Schweigen, fügte er hinzu: »Vielleicht sollte Ruth auch Zeichenstunden bekommen. Sie ist sehr begabt.«
Hinten im Wagen, auf dem Rücksitz – wo wir damals noch nicht angeschnallt waren – empfand ich einen Anflug von Hoffnung, als ich das hörte – wie ein winziger Lichtstrahl, der durch einen Türspalt drang, oder eine leichte Brise an einem drückend heißen Tag. Ich zeichnete für mein Leben gern, was meine Mutter offenbar noch nicht bemerkt hatte.
Sie schwieg. Wieso sollte sie etwas unterstützen, das mich mit Val Dickerson verband? Meine Mutter hielt zwar an der Beziehung zu dieser Frau fest, hatte aber jede Menge Vorbehalte gegen sie.
»Da vorne ist ein Howard Johnson, Mädels«, sagte sie. »Jede von euch kriegt ein Eis. Nur nicht Schokolade, das macht Flecken.«
Als wir später auf dem Parkplatz standen und unser Eis aßen – ich hatte als Einzige Kaffee genommen, alle anderen Erdbeer oder Vanille –, musste ich an ein Bild denken, das bei Dickersons an der Wand hing.
Es handelte sich um ein Poster von einem Maler, der damals sehr beliebt war: Ein dünnes Mädchen mit strähnigen Haaren und riesigen Augen, die das halbe Gesicht einnahmen, war darauf zu sehen. Das Mädchen hielt eine Blume in der Hand, und man hatte beim Betrachten des Bildes das Gefühl, dass dieses Mädchen der einzige Mensch auf der Welt war (und die Blume vermutlich die einzige Blume). Das Mädchen sah so unglaublich einsam aus. Und obwohl ich in einer großen Familie lebte – und wir fünf Schwestern uns drei Zimmer teilen mussten –, kam ich mir genau so vor wie dieses Mädchen.
Meine Mutter behandelte mich nicht
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