Das Leben Findet Heute Statt
verteidigte ihre Rechte. Wir sind in Rio Grande do Sul präsent, wo die Brüder mit interessierten Männern und Frauen eine Genossenschaft gegründet haben, die Müllrecycling betreibt. Andere haben einen Konfektionsbetrieb initiiert, der jetzt von armen Frauen organisiert und geführt wird. Solche Beispiele tragen wir zusammen auf Ordensversammlungen vor. Bei diesen Konventionen stellen sich etwa fünfzig Brüder aus den fünf Kontinenten dem Schrei der Armen in der Welt von heute und tauschen Erfahrungen aus. Sie entwerfen mit dem Blick auf das, was es schon gibt, im Lichtder Leitwerte unseres Charismas und der historischen und prophetischen Tradition unseres Kapuzinerordens Wege für ein zukunftsorientiertes Zeugnis und Handeln.
Uns ist klar: Evangelische Brüderlichkeit und ökonomische Gerechtigkeit müssen wir miteinander verbinden. Auf einer der Versammlungen wurde festgelegt: In einer Welt des Wettbewerbs und des Kampfs engagieren wir uns als Minderbrüder, die unterwegs sind, indem wir unsere Solidarität mit den Armen und an den Rand Gedrängten zum Ausdruck bringen und uns auf ihre Seite stellen. So verändern wir die Welt ein Stück weit gemäß dem evangelischen Geist der Brüderlichkeit.
Bei unserem Rundgang bleibe ich deswegen bewusst an der Armenstube unserer kleinen Niederlassung mit Ihnen stehen. Hier ist der Ort für die wichtigsten Fragen. Bevor es wieder hinausgeht, will ich Sie daran erinnern, was ich zu Beginn gesagt habe, als wir uns das Kloster von außen angesehen haben: Vergessen Sie Ihre Vorstellungen von einem Kloster, wenn Sie es mit uns zu tun bekommen. Die Kapuziner haben keine Ruhe anzubieten. Das Ziel der Spiritualität ist nicht ein innerer Frieden, sondern ein Frieden für alle. Es geht uns um Gott, wie er in den Strukturen dieser Welt leidet, weil so wenige den Weg der umfassenden Erlösung mitgehen wollen, die in Jesus einen menschlichen Startpunkt hatte, den Gott selbst seiner Schöpfung eingegeben hat.
Franziskus lässt sich von Jesus unruhig machen. Er findet ihn im heiligen Brot der Eucharistie, in dem Jesus sich bis zum Ende der Zeiten nach dem Glauben der katholischen Kirche real in dieser Welt zur Verfügung hält. Ihm ist intuitiv klar: Das ist der reale Impuls, den Jesus unablässig gibt – aus dem Brotbrechen in der Kirche muss es zu einer Bewegung der Teilgabe aller Güter der Schöpfung an alle kommen.
Er verändert das damals bekannte Anbetungsgebet: «Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und preisen dich, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst!» Mit seinen Brüdern spricht er: «Wir beten dich an, heiligster Herr Jesus Christus, hier und in allen deinen Kirchen auf der ganzen Welt …» Für uns Kapuziner gehören die Eucharistiefeier und das Leben mit den Armen zusammen. Die heilige Messe ist ein Unruheherd. Am Ende heißt es «Ite missa est». Zu Deutsch: «Raus mit euch. Tut, was ihr hier gefeiert habt.»
So wird nicht aus der Religion plötzlich Politik; Religion ist Politik. Sie ist Politik im Dienste des gegenwärtigen Reiches Gottes. Von wegen: Morgen kommt die neue Welt! Nein, das Leben fängt heute an. Mitten unter uns entscheidet sich, wie schnell das Böse in dieser Welt dem Reich Gottes Platz macht.
Im Jahre 2006 hatten sich in Porto Allegre in Brasilien etwa fünfzig Mitbrüder versammelt. Sie wollten die Berufung auf das Beispiel von Franziskus sowie der ersten Kapuziner mit einer kritischen Analyse des heutigen sozialen und ökonomischen Kontextes verbinden. Sie besannen sich auf die Prinzipien, nach denen das heute vorherrschende System kritisiert werden muss. Alle müssen teilhaben können an den Gütern der Erde. Diese müssen angemessen und gerecht verteilt werden, sodass die Art der Verteilung von allen gebilligt werden kann. Alles muss transparent geschehen. Alles muss solidarisch sein: Die Schwachen brauchen mehr als die Starken. Und schließlich muss die Kritik einen strengen Lebensstil einfordern, denn diese eine Welt können sich nur alle leisten, wenn alle bereit sind, sich nicht alles zu leisten.
Weil die Menschheit diese Prinzipien nicht befolgt, verwandelt sie diese Welt in eine Tötungsmaschine. Die Zahlen sind bekannt: Die 20 reichsten Länder der Welt hatten 1960 3 0-mal so viel an Vermögen wie die 20 ärmsten Länder, 2002 war es bereits 7 4-mal so viel. Die rund 350 reichsten Haushalte der Welt haben dasselbe Jahreseinkommen wie die gesamte arme Hälfte der Weltbevölkerung. Die Einwohner der
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