Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
auch nicht. Es war bescheuert von mir. Ich danke dir, das ist alles. Wirklich.«
Er mustert mich noch einen kurzen Moment verächtlich und geht dann kommentarlos hinaus.
Das Hacksteak ist kalt. Ich habe keinen Hunger mehr.
Man gebe mir eine Schaufel, damit ich mich begraben kann.
D ank StayFriends, einer dieser archäologischen Webseiten im nostalgischen Zeitgeist, mit denen man alte Bekannte ausgraben kann, habe ich vor ein paar Monaten meinen Freund Serge wiedergefunden.
Ein Vollzeitgenießer. Ein großer Spinner, Verführer, Tölpel, immer zwischen zwei Frauen, zwei Beziehungen, zwei Dramen. Er hat Anfang August mit mir Kontakt aufgenommen. Seitdem schreiben wir uns Mails oder albern auf MSN herum, wir reden über Bücher, Kochrezepte und Kriegs-, das heißt Jugenderinnerungen.
Zuletzt gesehen hatten wir uns im Juli 1970 , in einer Fernfahrerkneipe irgendwo zwischen Bordeaux und Lille. Er sah damals aus wie Steve McQueen als Kopfgeldjäger Josh Randall, und ich eiferte Dick Rivers auf der Folk-Gitarre nach. Ich war fünfundzwanzig, er sechsundzwanzig. Er fuhr einen roten Renault Caravelle, ich einen verbeulten blauen Renault Dauphine. Wir liefen herum wie die Rockgruppen
Chats Sauvages
und
Chaussettes Noires
: schwarze Lederjacken, hautenge Hosen, spitze Stiefel. Der Mai 68 war an uns vorbeigegangen, ohne unsere Überzeugungen anzukratzen – eher sterben als auf
Peace and Love
zu machen, Joints zu rauchen oder lange Haare zu tragen. Schlaghosen und geblümte Hemden, das war was für Tussen. Unsere Hemden waren schwarz und spannten über den Brustmuskeln. Die neue Generation grüßte uns mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger, dem Peace-Zeichen. Wir antworteten ebenso. Allerdings ganz minimalistisch, ohne den Zeigefinger.
Wir hielten uns für Rebellen. Die anderen hielten uns für Spießer.
Serge hatte gerade einen Job als Weinvertreter gefunden. Ich fing an, für ein Import-Export-Unternehmen im Nahrungsmittelsektor zu arbeiten. Wir hatten das Leben vor uns.
Als wir uns in der Brasserie
La Comète
zum ersten Mal wiedergetroffen haben, lag das Leben überwiegend hinter uns, ganz unversehens.
Er hatte Fotos von damals mitgebracht. So kleine Polaroid-Bilder, bräunlich gelb, quadratisch, mit grauer Rückseite und weißen Rändern, in einer derart beschissenen Qualität, dass man sie nicht mal anständig scannen konnte.
Als ich in die Brasserie kam, erkannte ich ihn sofort wieder, auch wenn zweiundvierzig Jahre vergangen waren. Man verändert sich, aber man bleibt auch gleich. Man behält immer etwas von seinem Kindergesicht. Da kann man machen, was man will, auch im Alter behält man eine gewisse Familienähnlichkeit mit sich selbst.
Er war weniger kahl als ich, ich hatte weniger Bauch als er. Ich trug keine Gitarre mehr über der Schulter. Was für die Welt der Musik kein Verlust war.
Mein Freund Serge sah aus wie der belgische Sänger Arno, die Haare zerzaust, Säcke unter den Augen, ein Blick wie ein geprügelter, aber doch wohlgenährter Hund. Er konnte nicht verbergen, dass er sich seinen Beruf in der Weinbranche zu Herzen genommen hatte. Ich kenne den Burschen, er ist sehr gewissenhaft. Das ist doch mal eine seltene Qualität!
Was kann man von sich erzählen, wenn man sich nach so langer Zeit wiedersieht? Ehe, Kinder? Das war, was mich betrifft, schnell abgehandelt. Kein Nachwuchs. Seit neun Jahren Witwer. Weder feste Freundin noch Affären.
Wie es in dem Lied von Léo Ferré so schön heißt:
Vielleicht fühlt man sich ein bisschen einsam, aber man hat seine Ruh …
Serge, der alte Casanova, war seit fünfunddreißig Jahren mit der gleichen Frau verheiratet. Eine gewisse Nathalie, klein, blond, dünn, mit misstrauischen, treuen Katzenaugen.
Auf einem neueren Foto stand sie zwischen zwei massigen, lächelnden Männern Anfang dreißig, die aussahen wie Klone ihres Vaters.
»Meine Familie …«
Er sah zufrieden aus.
Dann redeten wir, als fröhliche Rentner, die wir waren, über das Arbeitsleben.
Serge war als Vertreter fünfunddreißig Jahre lang für die gleiche Weinhandlung gereist.
Ich hatte als Hafenarbeiter angefangen und war Ladungskontrolleur geworden; ich hatte mehrmals die Firma gewechselt, war aber immer im Seefrachtsektor geblieben.
Er hatte den größten Teil seines Lebens zwischen Weinkisten verbracht, ich zwischen Frachtcontainern.
Er war von Château zu Château gereist, von Weingut zu Weingut, während ich zwischen Handelshäfen hin und her pendelte, vom
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