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Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Titel: Das Leben ist ein listiger Kater. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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kurzerhand eins aufs Maul gegeben.
    Mit dreißig hätte ich ihm den Stinkefinger gezeigt und gehofft, dass er auf Rabatz aus ist.
    Heute verhält sich mein Mut umgekehrt proportional zur Statur meines Gegenübers.
    Es ist doch erstaunlich, wie tolerant das Alter einen werden lässt.
    Davon abgesehen war die Frage natürlich rein rhetorisch, denn Myriam redet längst weiter: »Und er brüllt mich an ›Du blöööde Sau‹! Wortwörtlich. Entschuldigung, aber so war’s! Mich juckte es in den Fingern, ich hätte ihm am liebsten eine geknallt, das können Sie mir glauben!«
    Sie ist immer noch geladen, das spüre ich daran, wie sie mir mit dem zu rauen Handtuch die empfindlichen Stellen abrubbelt. Um ihre Wut nicht zu verstärken und den Schaden zu begrenzen, nehme ich ängstlich nickend und stoßweise atmend Anteil, mit starrem Blick und geweiteten Pupillen. Schließlich entspannt sie sich, und ich kann durchatmen. Daraufhin verkündet sie mir, man werde mich bald in eine halbsitzende Position bringen sowie die Infusion und den Katheter ziehen.
    »Bald werden Sie sich wieder selber waschen können.«
    Ich unterdrücke einen Seufzer der Erleichterung. Gewaschen zu werden mag vielleicht für manche Leute eine erotische Phantasie sein, aber die Realität ist außerordentlich enttäuschend. Myriam ist so zartfühlend wie ein Armeekrankenträger im Bombenhagel, ihre jüngere Kollegin ist bemerkenswert ungeschickt, und die ältere befasst sich mit dem Intimbereich so flüchtig, dass das Wasser verdunstet, bevor es damit in Berührung kommt. Da kümmere ich mich doch lieber selbst drum. Zwar ohne Lustgewinn, dafür aber gründlich.
    Myriam packt ihre Nierenschale und ihr Betadine-Fläschchen wieder ein und fügt noch hinzu: »Ach, beinahe hätte ich’s vergessen! Ab morgen früh kommt der Physiotherapeut zu Ihnen, um Sie zu mobilisieren.«
    »Um mich was?«
    »Oh, keine Sorge, Sie sind zu alt, um in den Krieg zu ziehen! Sie mobilisieren, das heißt Ihnen dabei helfen, sich wieder etwas zu bewegen.«
    »Schon?«
    »Träumen Sie mal nicht – bis Sie mich zum Tanzen ausführen können, dauert es noch eine Weile!«
    Sie zwinkert mir zu. Ich lache lange genug, damit sie sich freut. Sie geht beschwingt aus dem Zimmer. Ich rufe ihr noch nach, sie möge bitte die Tür wieder zumachen.
    Aber natürlich ist sie längst weg.

V ielleicht ist es die Aussicht auf das nahende Ende, die den Drang in mir weckt, den Weg noch einmal rückwärts zu beschreiten. Ich sage das nur so dahin, letztlich weiß ich es nicht, ich habe da keine Erfahrung.
    Ich werde zum ersten Mal alt.
     
    Jedenfalls habe ich nicht mal vier Seiten von meiner Autobiographie geschrieben und plage mich schon ab wie ein Galeerensklave. Es ist keine leichte Übung. Alles andere als leicht.
    Weite Teile meines Lebens habe ich vergessen. Andere kriege ich nur mit Mühe wieder zusammen und kann sie kaum im richtigen Jahrzehnt ansiedeln. Umgekehrt gibt es Erinnerungen, die unglaublich klar und präzise sind. Ich entdecke – das war aber auch Zeit –, dass die Genauigkeit des Gedächtnisses nichts damit zu tun hat, welche Bedeutung man der jeweiligen Erinnerung beimisst.
    Zum Beispiel: Ich erinnere mich genau an den Geschmack des Wurmmittels, das meine Mutter mir verabreichte, an den Geruch des Wachses, mit dem sie die Möbel polierte, und an den der lila Tinte und des weißen Leims, die wir in der Schule benutzten. Aber ich erinnere mich weder an den Geschmack noch an den Geruch meiner ersten Liebe. Ebenso wenig wie an die der folgenden, auch wenn es so viele nicht waren.
    Dabei müsste doch in der Rangfolge der prägenden Erinnerungen meine erste Eroberung etwas weiter oben stehen als das Etuifont-Tintenpulver in Metalltuben, das wir in einem großen Wasserkanister auflösten, oder die Töpfchen mit Cléopâtre-Leim aus Stärke und Bittermandel.
    Die Farbe meines ersten Fahrrads sehe ich noch genau vor mir, es war ein rotes Peugeot-Rad mit Rücktritt, etwas zu groß für mich, mit Schutzblechen, Gepäckträger, Lichtern und Kettenschutz in der gleichen Farbe, dazu Satteltaschen aus beigem Leder.
    Aber was die Augenfarbe meines Vaters angeht, zögere ich: blaugrün, graugrün, graublau?
    Ich erinnere mich bis zum letzten Kieselsteinchen an den Kasernenhof, in dem ich sechzehn Monate verbracht habe, aber ich wäre unfähig, aus dem Gedächtnis das Gymnasium zu zeichnen, in dem ich acht Jahre bis zum Abitur verbracht habe, eine Klasse doppelt.
    Ich erinnere mich an keine

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