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Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Titel: Das Leben ist ein listiger Kater. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Stimme.
    Keine einzige.
     
    Ich kann es mir gleich eingestehen: Von meinen siebenundsechzig Lebensjahren ist nicht viel übrig.
    Alles entgleitet mir, alles zerrinnt.
    Wahrscheinlich sollte ich mich darüber freuen: Auf eine weite Reise geht man besser mit leichtem Gepäck.
    Nur bin ich mir trotzdem nicht sicher, ob ich weit kommen werde.

S eit Serge und ich uns wiedergefunden haben, denken wir ständig an die
alten Zeiten
.
    Wir stellen einander Testfragen: Aus welchem Jahr stammt dieser oder jener Film, dieses oder jenes Lied? Wie hieß noch mal dieser Typ, jenes Mädchen? Das zwingt uns dazu, den Stoff unseres Lebens noch mal durchzugehen, und da wir ja keine schlechte Note zu befürchten haben, ist das nicht einmal unangenehm.
    Wenn ich nicht an meiner Lebensgeschichte schreibe, verbringe ich viel Zeit auf YouTube – dank meinem Großneffen, der mich in die Geheimnisse des Internets eingeweiht hat – und höre Eddy Mitchell, Johnny Hallyday, Long Chris et les Daltons, Vince Taylor, King Elvis, Dany Logan und Paul Anka. Ich schließe die Augen und tauche in die Vergangenheit ein. Jeder Song erinnert mich an eine Party, einen Flirt, einen Slow, einen Kuss,
Put your head on my shouuulder
, an meine Flammen von damals, Michèle, Yvette, Anne-Marie, Danielle, an ihre Karo-Röcke und ihre Tüpfel-Kleider. All diese Mädchen, die sich an unsere traumhaften Waschbrettbäuche klammerten, wenn wir sie auf unserer Solex, Mobylette oder Vespa herumkutschierten.
    Und die glückseligen Zeiten der Raufereien am Ende der Tanzabende, als man sich vier-, fünfmal hin und her schubste, um sich nicht in die Fresse hauen zu müssen, und die schlimmste aller denkbaren Katastrophen gleich nach dem Veilchen (aber auch die schickste) ein abgebrochener Schneidezahn war.
     
    Manchmal verdrücke ich ein Tränchen.
    Das ist die Inkontinenz der Erinnerung, das Bettnässen der Gefühle.

W ie versprochen ist der Physiotherapeut gekommen. Er hat mir ein olympisches Trainingsprogramm aufgestellt, und seit ein paar Tagen arbeiten wir an meiner Rehabilitation. Ich sage »wir«, weil ich den Eindruck habe, dass er dabei noch mehr schwitzt als ich. Man merkt, wie hochmotiviert er ist. Er wird vor mir wieder laufen lernen.
    Abgesehen davon ist er ein sympathischer Kerl – das ist sein Glück, denn er verlangt irrwitzige Kraftanstrengungen von mir. Er hat ganz behutsam mit scheinheiligen Massagen angefangen, um mich einzulullen, mein Misstrauen zu zerstreuen, und ist dann zur Elektrostimulation übergegangen. Jetzt arbeitet er daran, mich das Bein um ein paar Zentimeter anheben zu lassen, erst das eine, dann das andere: Noch ein bisschen – noch ein bisschen – noch ein bisschen! Und jetzt halten – halten – halten!, und ich stelle angesichts meiner kläglichen Leistungen fest, dass ich noch weit davon entfernt bin, einen Cancan aufs Parkett zu legen. Allein mich auf den Bettrand zu setzen ist schon eine Riesenaffäre. Ich kippe nach hinten zurück wie ein übergroßes Purzelmännchen mit steifem Bein und Stützkorsett. Jede Bewegung muss wohlbedacht und vorbereitet werden und zieht neue Komplikationen, Schwerfälligkeiten und Schmerzen nach sich.
    Ich komme mir vor wie ein hilfloser Greis, was wahrscheinlich nur ein bitterer Vorgeschmack auf eine gar nicht so ferne Zukunft ist. Ich dachte, ich könnte mich auf den Mann verlassen, der ich vor dem Unfall war. Kein großer Sportler, zugegeben, aber doch einer, der in puncto Beweglichkeit und Energie für sein Alter noch ganz gut erhalten war.
    Irrtum und Ernüchterung.
    Meine Bauchmuskeln sind wie ausgeleierte Gummibänder, mein linkes Bein ist nur noch eine mit Zement ausgestopfte Schlummerrolle. Das Becken tut weh, der Rücken quält mich, meine Arme sind schlaff, mein Nacken ist verkrampft, ganz zu schweigen von meiner morgendlichen Steifheit, die nichts Triumphales hat, und von meiner allgemeinen Unbeholfenheit.
    Ich finde mich selbst zum Erbarmen, es ist fast rührend.

E in schroffes Klopfen, und schon fliegt die Tür auf. Nie hat man seine Ruhe, verdammt!
    Endlich war die Tür einmal zu, aber es war mir nicht einmal vergönnt, »Herein!« sagen zu können. Der Chirurg steht schon im Zimmer, gefolgt von einer Horde Assistenzärzten, kaum flügge und schreckensstarr. Ich hätte es mir denken können, wir haben Donnerstagmorgen, und es ist 11  Uhr  30 . Der Mann ist pünktlich wie die Kuckucksuhr.
    Er grüßt mich mit einem martialischen »Herr Fabre!«.
    Dann zieht er mir mit

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