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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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hin. »Guten Tag«, sagte er. »Alexander Kimowitsch Besetow. Bin gerade hierhergezogen.« Er lächelte breit, weil das bei den alten Weibern in Ocha immer gut angekommen war. Die Männer sahen einander an und schienen eine Art kollektive Gesichtsmuskelzuckung zu erleiden. Es war nicht gerade ein Augenverdrehen, doch Alexander hatte das verstörende Gefühl, dass es in etwa dasselbe bedeutete. Er sah die Männer aus zusammengekniffenen Augen an und suchte nach Anzeichen der Gefahr, doch sie wirkten wie alle anderen, die er seit seiner Ankunft getroffen hatte – unausgeschlafen und latent feindselig. Der Lange wardürr, und die anderen beiden wirkten trotz ihrer dicklichen Statur schwächlich und ausgezehrt, als hätten sie zu viel von immer demselben gegessen. Der Kleine hockte sich auf den Boden, so dass seine wieselartig gerundeten Hüften sichtbar wurden.
    »Iwan Dimitrijewitsch Bobrikow«, sagte der Lange. »Das hier ist Nikolai Sergejewitsch Tschernow.«
    »Angenehm«, sagte Nikolai vom Boden aus.
    »Und der Sowok hier ist Michail Andrejewitsch Solowjow«, sagte Iwan. »Woher kommst du?«
    »Aus Ocha«, sagte Alexander. »Aus dem Osten.«
    »Wir wissen, wo Ocha liegt«, sagte Nikolai. »Wir studieren nämlich Geographie.«
    »Geographie?«, fragte Alexander höflich.
    »Na ja, Geschichte«, sagte Iwan. Er ließ seine Knöchel knacken.
    »Wirkliche Geschichte«, sagte Michail.
    »Sei still, Mischa«, sagte Iwan. Er zwinkerte Alexander zu wie ein Erwachsener über den Kopf eines Kindes hinweg. Alexander wusste nicht, was er auslösen würde, wenn er zurückzwinkerte, also ließ er es bleiben. »Und was willst du hier, Towarischtsch?«, fragte Iwan.
    In der Menschenmenge hob ein Sprecher zu einer zärtlichen Lobeshymne auf Stalin an. Seine Stimme bebte, und seine Nase wurde vor Ergriffenheit knallrot.
    »Schach spielen«, sagte Alexander. »Ich habe einen Platz an der Akademie. Bei Andronow.«
    »Ach ja? Und was soll ein Junge aus Ocha bei Andronow an der Akademie?«
    Alexander kratzte sich an der Nase. »Ich war vorher in seinem Fernkurs.«
    »So, so«, sagte Iwan. »Hast du dann einen Lieblingsspieler? Spasski vielleicht?«
    »Er ist nicht schlecht. Aber er hat sich von Fischer 72 psychologisch fertigmachen lassen. Mit dem Geld und dem Zuspätkommen und so.«
    »Aber die Partie wurde von den Amerikanern manipuliert, oder?Sie haben Spasski durch chemische und elektronische Vorrichtungen ferngesteuert, nicht?«
    Alexander starrte ihn an. Er wusste wirklich nicht, was er zu so etwas sagen sollte. »Nein«, sagte er schließlich. »Nein, das glaube ich nicht.«
    »Und Russajew? Du bewunderst doch sicher Russajew?«
    »Er ist langweilig.«
    »Langweilig!«
    »Er hätte genauso gegen Fischer verloren, wenn Fischer nicht verrückt geworden wäre.«
    »Willst du damit sagen, die Amerikaner sollten immer noch Weltmeister sein?«
    »Ob sie sollten, weiß ich nicht. Aber sie wären es.«
    »So, so«, sagte Iwan. »Das sind ja interessante Ansichten. Was bringst du sonst noch mit?« Er besah sich Alexanders Rucksack. »Leichtes Gepäck. Ein Zeichen großer Parteitreue.«
    Alexander gefiel es nicht, dass Nikolai noch immer am Boden hockte; es sah aus, als setzte er zum Sprung an.
    »In meinem Zimmer habe ich noch mehr Sachen«, sagte Alexander. »Aber ich bin ein treuer Anhänger der Partei.« Es tat gut, in der fremden Stadt einen vertrauten Satz auszusprechen.
    »Natürlich«, sagte Iwan und zog irgendwo aus seinem riesigen schwarzen Mantel Papier und Stift hervor. Er hielt die Stiftkappe mit den Zähnen und schrieb etwas auf. »Hier.« Er reichte Alexander den Zettel, und Alexander sah darauf herab. »Café Saigon«, sagte Iwan. »Schon davon gehört?«
    »Nein«, sagte Alexander entschuldigend. Dauernd musste er zugeben, von irgendetwas noch nicht gehört, etwas nicht gekannt oder nicht getan zu haben, und wurde es allmählich leid.
    »Es liegt an der Ecke Newski und Wladimirski. Das Haus, das aussieht, als wäre es noch im Bau. Wir sind fast immer da, weil zu Hause die Heizung nicht funktioniert. Komm vorbei, wenn du magst. Alle anderen in dem Laden reden über Musik, aber wir könnten uns über Geographie unterhalten.«
    Alexander starrte ihn an. »Ist das nicht ein ziemlich abgeschlossenes Gebiet?«
    »Weniger, als man denkt.«
    »Na dann«, sagte Alexander. »Also gut.« Unschlüssig hielt er den Zettel in der einen und den Rucksack in der anderen Hand. Aus den Lautsprechern auf dem Platz drangen die ersten

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