Das Leben ist groß
Alexander hingezogen hat oder das ich an ihm verstehe, obwohl ich selbst keine besonders gute Schachspielerin bin. Außerdem fasziniert es mich besonders – und vermutlich nicht nur mich –, wenn jemand in dem, was er tut, wirklich brillant ist. Brillante Schachspieler sind besonders faszinierend, weil sie oft auf diese ganz rätselhafte Art und Weise auserwählt zu sein scheinen – sie fangen oft schon als Kinder damit an und richten dann ihr ganzes Leben darauf aus. Garri Kasparow zum Beispiel hat mit vier ein Schachproblem in der Zeitung gesehen und es gelöst – und das war es dann: Von da an war Schach sein ganzes Leben. Das kommt mir so viel merkwürdiger vor als irgendein sportliches, sprachliches oder mathematisches Können, das man auf verschiedenen Wegen erwerben kann. Große Schachspieler scheinen sich nicht in das Spiel zu verlieben, sondern es sieht eher so aus, als ob sie es schon wiedererkennen, wenn sie ihm zum ersten Mal begegnen. Das finde ich total faszinierend, unter anderem deshalb, weil es gar keinen Sinn ergibt.
F: Die andere Protagonistin Ihres Romans, die junge Amerikanerin Irina, ist ebenfalls Teil einer Art Randgruppe, nämlich der Gruppe von Menschen, die nach der Diagnose einer unheilbaren degenerativen Krankheit wissen, wie und ungefähr wann sie sterbenwerden. Dieses Wissen hat es ihr scheinbar unmöglich gemacht, sich in Amerika auf tiefe Freundschaften oder Liebe einzulassen, obwohl sie sich darum bemüht, ihrem Leben einen Sinn zu geben.
Am Ende geht sie doch noch Verpflichtungen ein, indem sie sich als kleine Figur im großen politischen Spiel positioniert. Das erlaubt es ihr, ihre emotionale Distanz im Wesentlichen zu wahren. Es gibt da diese sehr eindrucksvolle Textpassage, nachdem sie ihren großen Beitrag zu Alexanders Kampagne geleistet hat und nachdem die ersten unmissverständlichen Symptome ihrer Krankheit aufgetaucht sind:
»Ich glaube, auch wenn ich mir nicht sicher bin, dass meine Hände stärker zittern als normal, dass sie sich immer ungenierter in Eigenregie fortbewegen. Ich sehe zu. Ich lege meine Hände auf den Falttisch, und sie beben und zucken.
Aber wer weiß, vielleicht ist es gar nicht pathologisch. Es könnte einfach ein Zeichen der Ehrfurcht sein. Vielleicht ist es einfach die Schönheit des Himmels und der Wolken – das Wunder eines frühen Morgens, die Häresie der Luftfahrt.«
Diese Passage wird umso ergreifender dadurch, dass wir als Leser schon ahnen, was mit dem Flugzeug geschehen wird. Irina hat sich selbst zu einer Spielfigur im Endspiel gemacht, zu etwas Abstraktem, und das scheint für sie der einzige Weg zu sein, etwas Bedeutsames für den Rest der Welt zu tun. Andererseits lässt sie sich gegen Ende doch noch mit einer der anderen Figuren ein. Sie scheinen als Autorin im Verlauf des Romans immer wieder zwischen dem Realen, Direkten und dem Abstrakten hin und her zu wechseln. Würden Sie diese Bewegung als eins der wesentlichen Elemente des Romans ansehen?
A: Irina ist, als wir sie kennenlernen, außerstande, ihrem Leben einen Sinn abzugewinnen, weil sie positiv auf Chorea Huntington getestet worden ist, und diese Spannung zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten, von der Sie sprechen, ist eine sehr guteMöglichkeit, dieses Problem in Worte zu fassen. Der Tod ist für uns alle unausweichlich, aber zugleich ist er auch etwas ganz Abstraktes, das niemand sich wirklich vorstellen kann – wir wissen eigentlich nur vom Hörensagen, dass er irgendwann eintreten wird. Für Irina ist dieses bedrohliche Abstraktum viel realer als die konkreten Umstände ihres wirklichen Lebens. Es fällt ihr furchtbar schwer, sich auf etwas Vergängliches einzulassen – oder sagen wir, sie ist zu verängstigt und zu stur, um es zu versuchen –, und weil alles vergänglich ist, übrigens nicht nur für Irina, sondern für uns alle, hat sie ein echtes Problem. Aber Irinas Ende sehe ich eigentlich als Ablehnung oder Abkehr von diesem Denken; ich würde nicht sagen, dass sie sich da in den Bereich des Abstrakten oder Theoretischen hineinbegibt. Im Gegenteil sehe ich ihr Verhalten am Ende so, dass sie sich endlich ganz und gar einer sehr realen Angelegenheit verschreibt, sich ganz hineinbegibt, obwohl sie fast sicher ist, dass ihr Versuch, etwas zu ändern, erfolglos bleiben wird – und ganz sicher weiß, dass sie das Resultat nicht miterleben wird. Ich denke, Irina hört am Ende auf, immer in diesen abstrakten Kategorien zu denken; in der Passage, die Sie
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