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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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KAPITEL 1
    Alexander
    Leningrad, Sowjetunion, 1979
    Als Alexander endlich in Leningrad ankam, beeindruckte ihn am meisten die große graue Masse der Newa. Der Fluss war ein pulsierendes Organ der Stadt – nicht ihr Herz, dachte er, sondern etwas Zweckmäßigeres, weniger Sensibles und doch Lebenswichtiges. Der Mandelkern vielleicht oder die Nieren. Seit der Abreise aus Ocha war er sechs Tage unterwegs, zu Wasser und dann mit dem Zug, und hatte vor den Fenstern das ganze Land vorüberziehen sehen: erst die schwankenden Fördertürme auf Sachalin, die er kannte wie seine eigenen Träume, dann, am Hafen, den verlassenen grünen Zug, der seit dem Krieg gegen Japan allmählich im Sand versank, dann die zehntausend Lachse, die an der Ostküste in der Sonne faulten und auf das Telegramm mit der Verladegenehmigung aus Moskau warteten, und die gekräuselten Rauchsäulen über den unglaublich weit auseinanderliegenden Dörfern (er hatte nicht einmal geahnt, in was für einem unfassbar großen Land er aufgewachsen war). Er hatte umgewidmete Kathedralen gesehen, Bergleute, deren Gesichter schwarz und hart wie Kohle waren, endlose Ebenen aus verkümmertem Gras unter einem ausgebleichten Himmel. Als der Zug in den Moskowski Woksal einfuhr, hatte er mehr als genug gesehen, fand er. Dabei hätte er dankbar sein sollen. Die Reise nach Leningrad hatte monatelange bürokratische Taktiererei erfordert – beantragte, unterschriebene, verlorengegangene Dokumente, erste und zweite Anläufe und Bestechungsversuche von Andronow, der Alexander an der Akademie unterrichten sollte. Eines Tages war sein Einreisevisum plötzlichda gewesen, so unerwartet wie ein Schneesturm im Juni, wie Frösche, die vom Himmel regnen – und das, dachte er oft, war das Entscheidende: nicht, dass nichts funktionierte, sondern dass man nie, nie wissen konnte, was funktionieren würde und was nicht.
    Und auf dem Bahnsteig, beim Kreischen der Bremsen, inmitten der scheidenden Paare, im Dunst von Talg und Zigaretten, Bratfett und stechendem Parfüm, hätte er fast die Nerven verloren. Fast hätte er sein Gepäck auf die Schienen fallenlassen, wäre wieder eingestiegen und den ganzen Weg zur Pazifikküste zurückgefahren, obwohl sein einziges Schachbrett im Rucksack war und sein Bestechungsgeld fast aufgebraucht. Kurz bevor der Zug hielt, hatte sein Sitznachbar dem ganzen Waggon mitgeteilt, dass heute Stalins hundertster Geburtstag war. Alle hatten rasch den Blick abgewandt. Doch hier war der Beweis: Die Sinopskaja Nabereschnaja war voller Polizisten, deren Uniformen in der grauenhaft weißen Sonne rot und golden glänzten. Sie waren da, um sicherzustellen, dass niemand vorlaut oder übermütig wurde.
    »Papiere?« Hinter ihm stand ein Polizist, dem anzuhören war, dass Alexander ihm schon jetzt den Tag verdorben hatte. Als Alexander die Hand hob, um die Sonne abzuschirmen, rieselten ihm Rußkörnchen aus den Augenbrauen. Über eine der gewaltigen Schultern des Polizisten erhaschte er Blicke auf die grüngraue Newa. Ihr starker Arm, dachte er, hielt die Stadt im Schwitzkasten oder stützte sie wie eine osteoporotische Wirbelsäule.
    »Papiere!«, sagte der Polizist noch einmal. Der Kinnriemen grub sich in seinen fetten Hals, und seine goldene Kokarde blitzte. Alexander durchwühlte seinen Rucksack. Als er seine Reisepapiere fand, begutachtete der Polizist sie verdrießlich und klopfte sich mit dem Schlagstock an den Oberschenkel.
    »Sachalin?«, sagte er. »Wohl in den falschen Zug gestiegen?«
    Und Alexander dachte: Ja, das könnte schon sein.
    »Und? Auf den Mund gefallen, was? Na, egal. Weitergehen. Sie wissen ja wohl, welcher Tag heute ist.«
    Ja, das wusste Alexander. Und auch was die Newa anging, kamer jetzt zu einer Entscheidung: Sie war das Gehirn. Nicht der Teil des Gehirns, der sich Sonette oder eindrucksvolle Schachzüge ausdenkt; nicht der Teil, der schmachtende Seufzer ausstößt, Solschenizyn liest und nach der tieferen Bedeutung fragt. Sie war der Teil, der fickt, der flieht, der überlebt, auch wenn das Gewissen dagegen spricht.
    Jahre später, als Alexander das Schachbrett gegen die politische Bühne eingetauscht hatte, sollte die Stadt sich vollkommen verändern. Gelangweilte Frauen ohne Augenbrauen standen, in türkische Seide gehüllt, vor den Nachtklubs Schlange und kippten lachend wahnwitzig teuren Wodka in den Schnee. Gewaltige Werbetafeln und Neonreklamen stempelten den Abendhimmel mit mehr oder weniger erreichbaren Träumen, Meinungen und

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