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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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nach Semesterbeginn sah Andronow Alexander bei einem Spiel zu. Alexander besiegte seinen Gegner – wie er jeden bisherigen Gegner besiegt hatte und in seiner gesamten Zeit an der Akademie weiterhin jeden besiegen würde, zuletzt Andronow selbst –, doch Andronow schniefte nur und sagte: »Nicht schlecht für deine Verhältnisse.«
    Seine Tage verbrachte Alexander also in zugigen, hohen Räumen am Tisch, mit wechselnden Jungen und Männern, die es offensichtlich furchtbar fanden, dort zu sein. Zuerst verhielten sie sich ihm gegenüber gleichgültig; dann, als seine Siegesserie allmählich auffiel, straften sie ihn mit glühender Verachtung, so unterschwellig, dass sie von der ursprünglichen Gleichgültigkeit durch nichts zu unterscheiden war. Andronow begann ihn nach einer Weile ein wenig anders zu behandeln – nicht freundlicher, doch er sah ihm interessiert beim Spielen zu und bedachte ihn häufiger mit unwirschen Anweisungen. Offenbar sah er in Alexander ein teures Rennpferd, das man gleichwohl wie alle anderen erschießen würde, wenn es lahmte.
    Trotz allem waren Alexanders Tage erträglich. Die Pausen waren endlos und unangenehm, doch die Schachpartien schienen jenseitsder Zeit stattzufinden – er fiel in sie hinein wie in eine Ohnmacht und gewöhnte sich nie an das Gefühl, beim Erwachen festzustellen, wie viel Zeit ohne ihn vergangen war.
    Schlimmer waren die Abende. Manchmal rief seine Mutter an, und dann schlurfte er, möglichst ohne auf die grauen Flecken zu treten, in Hausschuhen den Flur entlang zum Telefon. Seine Mutter jammerte ihm von seinen Schwestern und den Kosten ihrer Schulbildung vor und fragte, ob er Geld schicken könne. Andere Bewohner brauchten das Telefon für dringendere Angelegenheiten: Krankheiten, Geldtransfers, halbgeheime Verabredungen und Verhandlungsgespräche. Sie verdrängten Alexander mit ihren forschenden Blicken, ihrer absichtsvollen Nähe. »Nein, Mamotschka«, sagte er jedes Mal. »Ich kann noch kein Geld schicken.« Dann schlurfte er in sein Zimmer zurück, zündete eine Kerze an, kochte Tee im Samowar und schloss die Augen, bis er durch das Fenster fast das Rauschen des Pazifiks von früher zu hören meinte.
    Richtige Freunde hatte er in der Kommunalka nicht, doch er lernte die Bewohner so intim kennen wie kaum jemanden sonst. Neben ihm lebte eine Familie, ein Pärchen mit einem sehr schmutzigen Kind im Krabbelalter, und Alexander begriff mit der Zeit, dass der Mann die Frau schlug, dass die Frau das Kind kniff, und dass das Kind in verschiedenen Tonlagen schrie, je nachdem, wer gerade geschlagen oder gekniffen wurde. Auf der anderen Seite wohnte eine alte Frau, die sich tagaus, tagein mit jemandem unterhielt, den es, soweit Alexander wusste, gar nicht gab. Dann war da ein langhaariger, zartgliedriger Mann, der Männer mit aufs Zimmer nahm. Er arbeitete an der Universität, und zwischen zwei Semestern wurde er ertappt und hinausgeworfen und musste die Stadt verlassen. Alle sahen zu, wie er vor dem Auszug sorgfältig seine verfilzten, ausgefransten Hausschuhe am Türrahmen ausklopfte, während die Verwalterin mit den Schlüsseln in der Hand daneben stand. Es gab einen Säufer, der einem das Haarwasser oder das Parfüm wegtrank, wenn man es im Badezimmer stehenließ. Es gabzwei junge Frauen, die tagsüber schliefen, abends Anrufe entgegennahmen und die Nacht über ausblieben. All die Geräusche und die Geschäftigkeit um ihn herum gaben Alexander das Gefühl, im Inneren eines keuchenden Körpers zu leben, eines Organismus ohne inneren Monolog, der in unbewussten, abgehackten Suchbewegungen durch einen Wald hastete.
    Bei Anbruch der Nacht legte Alexander sich ins Bett, kniff die Augen so fest zu, dass er grelle Muster vor sich tanzen sah, und stellte sich das Leben seiner Mitbewohner vor. Er sah die Nachtmädchen, Elisabeta und Sonja, auf ihrem Bett liegen, die Beine mit jener widernatürlichen Selbstverständlichkeit ineinander verschlungen, wie sie Frauen im Umgang miteinander haben. Ihr Zimmer roch ein wenig nach Flieder – mild und kühl. Sie hatten einen Wellensittich, stellte er sich vor, um den sie sich viel zu viel kümmerten. Winters stellten sie nach der Heimkehr ihren Samowar an, schminkten sich ab und lachten über die Körper, die Macken und die Vorlieben ihrer Männer. Ganz unglücklich, stellte Alexander sich vor, waren sie nicht.
    Die Alte nebenan, beschloss er, sprach mit ihrem verstorbenen Ehemann. Anfangs hatte er sich für die beiden eine so

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