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Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Titel: Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clough Patricia
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KRISE!
    Hilfe!
    Hilfe, dachte ich, während ich in meinen Schubladen nach Taschentüchern kramte. Was soll ich denn jetzt sagen? Ich war sprachlos, panisch. Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht damit. Sissi * war von der Arbeit gekommen und hatte mir ein paar Sachen zurückgebracht, die sie sich für ihren Fünfzigsten ausgeliehen hatte. Eigentlich wollte sie nur schnell einen Kaffee bei mir trinken, bevor sie sich auf den Weg zu irgendeinem Sportkurs machte. Drei Stunden später saß sie immer noch auf dem Sofa und heulte. Ein Häufchen Elend. Ihr Leben sei vorbei, meinte sie. Ernsthaft.
    Ihre Geburtstagsparty war grandios gewesen. Alle ihre Freunde waren gekommen, die ganze Familie. Ihr Chef war da gewesen und auch die Kollegen aus dem Hotel, in dem sie als Rezeptionistin arbeitet. Selbst die ganz alten Freunde waren gekommen, ihre Weggefährten. Einige, wie ich, waren von weither angereist. Sissi strahlte Ruhe aus, Eleganz, sie war die perfekte Gastgeberin. Ihr Mann Dirk, der Bankdirektor, war gesellig und offen, er gab jedem Einzelnen das Gefühl, willkommen zu sein. Reden wurden gehalten, Komplimente gemacht, Sissi wurde als Freundin gewürdigt, als Kollegin, als Frau und als Mutter. Es gab Blumen, Geschenke. Ihre Kinder, die längst keine Kinder mehr sind, führten einen lustigen Sketch auf. Alles passte: das Büfett vom Catering, das wunderschöne Haus, die Musik. Es wurde bis spät in die Nacht hinein getanzt, die letzten Gäste gingen um drei.
    Â»Ein toller Abend«, sagte ich. »Ist doch prima gelaufen, du hast umwerfend ausgesehen. Du bist bestimmt sehr zufrieden.« Sissi schwieg und trank einen Schluck Kaffee.
    Â»Deine Gäste fanden es auf jeden Fall toll, sie reden immer noch darüber«, fügte ich hinzu. Ihr Schweigen irritierte mich. Sissi starrte in ihre Tasse. Nach einer Weile antwortete sie: »Ja, war wohl ganz nett. Freut mich, dass die Leute ihren Spaß hatten.«
    Â»Und du? Hattest du keinen Spaß?«
    Â»Nein, eigentlich nicht. Eigentlich gar nicht. Es war merkwürdig, ich fand es so, na ja, bedeutungslos. Ich habe mich so leer gefühlt, als hätte ich eine Rolle in einem Stück, das um mich herum aufgeführt wird.«
    Â»Aber …«
    Â»Ich weiß, was du jetzt sagen willst. So viele Freunde, die tolle Familie, ein Mann, auf den ich mich – einigermaßen – verlassen kann, das Haus, mein Job, der zu mir passt. Eine tolle Party. Ich habe alles. Es sieht tatsächlich so aus, als hätte ich alles, als ließe mein Leben nichts zu wünschen übrig.« Nach einer Pause sagte sie: »Doch in Wirklichkeit bin ich total verzweifelt.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    Â»Aber das verstehe ich nicht …«
    Sissi legte die Beine hoch und fuhr sich mit den Fingern durch das kastanienbraune Haar. Sie ließ sich sehr viel Zeit mit ihrer Antwort. »Weißt du, vor ein paar Tagen habe ich mich in einem Schaufenster entdeckt, ich sah mein Spiegelbild und dachte: Wer ist diese alte Frau, und warum trägt sie meine rote Jacke? Erst da verstand ich, dass ich mich selbst sah. Mich selbst! Ich hatte mich gesehen, wie andere Menschen mich sehen, und nicht das Gesicht, das ich so gut kenne, weil es mir täglich im Spiegel begegnet.«
    Â»Aber warum sagst du alte Frau?«, rief ich. »Du bist doch überhaupt nicht alt. Die fünfzig sieht man dir auf keinen Fall an.«
    Â»Na ja, manchmal schon«, antwortete sie, »aber darum geht es mir gar nicht. Oder nicht nur. Es war, als würde auf einmal alles gleichzeitig passieren.«
    Das verstehe ich, das kenne ich nur zu gut. Der Schock, wenn man merkt, dass man sein eigenes Spiegelbild nicht erkennt. Sozusagen der »Augenblick der Wahrheit«.
    Vor einiger Zeit hatte Sissi festgestellt, dass sich ihr Mann mit einem Interesse, das nicht nur beruflicher Natur war, um eine junge Praktikantin in der Bank bemühte, was ihr in unangenehmer Weise in Erinnerung rief, dass sie in der letzten Zeit kaum an Sex gedacht hatte. Auch das war ein solcher Augenblick der Wahrheit. Und dann gab es noch einen, vor ein paar Wochen, als sie zu einem ganz besonderen Abendessen eingeladen waren. Sissi zog ein weißes, schulterfreies Kleid an, in dem sie aufregend aussah. Eigentlich. Das wusste sie. Nur diesmal war alles anders. Es war, als wäre sie aus der Form geraten. Ihre Figur hatte sich verändert, das Kleid saß an einigen

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