Das Leben ist groß
Polizisten am Bahnhof. Er fragte sich, ob irgendwo da draußen wirklich jemand so dumm war zu feiern.
Er kramte den Stadtplan aus seiner Tasche, setzte den Rucksack wieder auf und ging. In der Küche begegnete er einer Frau, die mit einem schmutzigen Spatel Eireste aus einer Pfanne kratzte. Sie blickte Alexander finster an und sagte kein Wort. Draußen hatte sich die Kälte breitgemacht – hatte ihr Revier abgesteckt wie ein Schmerz nach der ersten Schrecksekunde –, und von dieser Kälte und der Erschöpfung nach sechs Tagen Zugreise (davon zwei im Stehen) wurde Alexander schwindelig. Die Gebäude um ihn herum waren nur bis auf Kopfhöhe blau gestrichen, als liefe er durch das Gemälde eines Kindes, das plötzlich die Lust verloren und sich davongemacht hatte. Der Wind nahm zu.
Auf dem Newski-Prospekt war es schön: Die Friese und Säulensahen aus wie im Alten Rom, und die Kellerläden, die leuchtend orangefarbenen Schilder, die Lichtspielhäuser wirkten wie der Mittelpunkt eines sehr modernen Universums. Dann entdeckte Alexander die Kundgebung: Ein strahlenbekränztes Bildnis Stalins schwebte über den Köpfen einer Menschenmenge wie ein großväterlicher, schnurrbarttragender Gott. Es waren nicht viele, die dort fröstelnd und verstreut in einem Ring nervös aussehender Polizisten standen. Im Näherkommen entdeckte Alexander Stalins Bild überall: Aus einem Foto starrte Stalin dem Betrachter drohend entgegen; auf einem anderen sah er mit einem wohlwollend strengen Ausdruck in die Ferne. Am Mikrophon leierte ein Mann die Geschichte der Schlacht von Stalingrad herunter. Am Rand der Menge drückten sich ein paar Männer mit schwarz-weiß gestreiften Irokesenkämmen und karierten Hemden herum. Alexander lehnte sich an einen Telefonmast und versuchte zuzuhören. Er war erschöpft, und er hatte das Gefühl, genau hier – in dem letzten blassen Sonnenfleck, im Windschatten der Gebäude, im monotonen Dröhnen militärischer Heldentaten aus den Lautsprechern – könnte er im Stehen einschlafen. Er zog sich die Mütze tief in die Stirn. Die Augen fielen ihm zu. Sein Kopf nickte nach vorn.
»Na, mächtig beeindruckt?« Ein Mann hatte ihn angesprochen. Alexander hob seine Ohrenklappen und blickte auf. Der Mann war lang und dürr; wenn er sich bewegte, sah es aus, als würden seine Gelenke sich aus- und einrenken und schmerzhaft neu zusammenfügen. Er hatte eine Pepsi-Flasche in der Hand und keine Handschuhe an. Neben ihm standen noch zwei Männer. Einer war selbst für Leningrad auffällig blass und hatte kopekenfarbene Augen. Der andere, klein und vernarbt, kritzelte in ein Notizbuch. Sein Mund bewegte sich, als kaute er etwas, doch Alexander glaubte irgendwie nicht daran. Alle drei hatten gestreifte Matrosenhemden an, wattierte Jacken und durchweichte Ohrenklappenmützen. Der Lange trug ein kleines silbernes Medaillon um den Hals.
»Allerdings«, sagte Alexander. »Es ist sehr eindrucksvoll.«
»Dass Koba schon hundert geworden wäre«, sagte der Lange.Sein Tonfall war trockener als trocken. »Wie schade, dass er nicht mitfeiern kann.«
»Sehr wahr«, sagte Alexander. »Unbestreitbar wahr.«
»Seine Reformmaßnahmen waren den Herausforderungen der Modernisierung wahrhaft angemessen, habe ich recht?«
»Sehr angemessen. Mehr als angemessen.«
»Und dann der Schnurrbart«, sagte der Blasse. »Dieser Schnurrbart war eine ehrfurchtgebietende Leistung, nicht? Koba hatte mehr Haare auf der Oberlippe als andere auf dem ganzen Kopf.«
Alexander drehte sich nach ihm um. Der Mann hatte etwas an sich, dass Alexander ihm nicht gerade ins Gesicht sehen mochte: etwas Verhärmtes unterhalb der Augen, das unangenehme Fragen über das Leben in Leningrad aufwarf. »Ja«, sagte Alexander und starrte unglücklich zu Boden. »Eine eindrucksvolle Errungenschaft.«
Der Lange sah Alexander amüsiert an. Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Wusstest du, dass er eins dreiundsechzig groß war?«, sagte er. »Wirklich. Eins dreiundsechzig, und er hatte einen schlimmen Arm. Auf Fotos wurde das nie gezeigt. Sie haben ihn nie neben jemanden gestellt. Auf Bildern mit anderen Politikern sitzt er immer.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Alexander zögernd. »Ich habe immer gedacht, er sei ein Mann von Format gewesen.«
Alexander fragte sich, wie alles so schnell so schiefgegangen war. Er wandte sich dem Kleinen zu, dessen Narben Kampfspuren oder Überbleibsel einer entstellenden Hautkrankheit sein mochten, und streckte ihm die Hand
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