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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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konnten nicht nach Hause gehen und wanderten ziel- und planlos weiter. Manchmal hörten wir ein wüstes Geschrei von weitem, und die Leute rannten nach dieser Richtung. Irgendwo hatten Nazis ein Schaufenster eingeschlagen oder einen Menschen verprügelt, vielleicht auch totgeschlagen. Wir gingen und gingen. Wir merkten kaum, daß es dunkel wurde. Gelb fiel das Licht der Gaslaternen herab. Aus verschiedenen Wirtshäusern drang der Gesang der grölenden Männerstimmen und wurde zuweilen von kurzen, kommandoscharfen Rufen unterbrochen.
    »Heil-Hitler! Deutsch-land er-wache! Sieg Heil!« bellte es schmetternd, und ein viehisches Singen hub wieder an.
    »Es ist aus! Alles aus!« brachte ich endlich würgend heraus und sah ohnmächtig auf meine Frau. Jetzt erst fiel uns auf, daß wir die ganze Zeit kein Wort geredet hatten. Sie nickte schluckend. Stumm gingen wir weiter …
    Bald darauf bekam ich ein Telegramm von den österreichischen Genossen: »Vortragstournee für dich perfekt! Sofort kommen!« Am 24. Februar, in einer grauen Winterfrühe, fuhr ich der Grenze zu. Der Tag bleichte langsam aus. Im Zug war es eigentümlich stumm und tot, als reisten lauter Leichen. Die Menschen saßen unbeweglich da, atmeten nur manchmal vernehmbar und wichen einander mit den Blicken aus. Ich sah zum Fenster hinaus auf das verschneite, friedliche Flachland meiner Heimat und suchte irgend etwas in der unbestimmten Ferne. Verschlafene Dörfer flogen vorüber, einsame, schneevermummte Bauernhäuser mit dick rauchenden Kaminen. Der Nebel verschleierte das Gebirge.
    Kurz vor der Grenze sah ich eine eisgraue, leicht gekrümmte Bäuerin mit stoischem Gesicht vor der Tür eines niederen Hauses stehen. In der einen Hand hielt sie ein kleines flachsblondes Mädchen, das winkte.
    »Eine Mutter wie die meine«, fiel mir von ungefähr ein …
    Ich war drei Tage in Wien, da brannte in Berlin das Gebäude des deutschen Reichstages. Es hieß, die Kommunisten hätten es in Brand gesteckt. An der Brandstelle sprach Hitler die verräterischen Worte: »Das ist ein von Gott gegebenes Zeichen! Niemand wird uns nun daran hindern, die Kommunisten mit eiserner Faust zu vernichten!« Und ebenso schrie jeden und jeden Tag die Stimme des neuernannten Reichspropaganda-Ministers Goebbels aus den Lautsprechern der Radios: »Zerstampft den Kommunismus! Zerschmettert die Sozialdemokratie!«
    Trotz dieses selbstgelegten Brandes und trotz all ihres Terrors brachte die Wahl am zehnten März den Nationalsozialisten nicht die erwünschte Mehrheit. Nur dadurch, daß sie die deutschnationalen Junker nach einigen fetten Zugeständnissen gewonnen hatten, konnten sie regieren.
    Tags darauf stieg meine Frau aus dem Zug, bleich und verstört.
    »Die Nazis riegeln die Grenzen ab, dann haben sie alle Gegner in der Mausefalle, und verlaß dich drauf, die schonen keinen«, sagte sie und hatte recht. Als wir aus dem Bahnhof gingen, schaute ich hoch in den farblosen Winterhimmel und suchte die Richtung Deutschland. Dort war eine Zeit angebrochen, in der jeder vor jedem Furcht hatte. Es war mir auf einmal, als fiele vom hart schweigenden Himmel ein riesiger, blutiger Vorhang herab, der alle Sicht verhinderte.
»Sieh doch, was mir geschah!
Was such’ ich da?
Was such’ ich dort?
Mein Vaterland ist fort!«
    Dieser Vers, den ich einmal irgendwo gelesen hatte, durchzog Augenblicke lang meinen Sinn. Kein Heimweh mengte sich darein, als ich darüber kurz nachdachte, kein Gefühl, als hätte ich etwas verloren. Etwas unbestimmbar Grenzenloses wurde tief wirklich in mir.
    Staunend dachte ich weiter: »Hm, merkwürdig … Vaterland?«
    Wie abstrakt, wie leblos war das immer für mich gewesen!
    Ich lebte stets nur da, wo ich meine Mutter fühlte und wußte. Diese Heimat blieb unverlierbar. –
    Wir waren schon monatelang, von allem abgeschnitten, in Wien, da überbrachte uns ein Genosse, der als illegaler Kämpfer öfter über die deutsche Grenze ging, einen Brief. Ich öffnete ihn klopfenden Herzens und erkannte die langgezogenen Buchstaben, in denen soviel Sehnsucht mitschwang. Die einfachen Worte lauteten:
    »Lieber Oskar!
    Wann werden wir uns wiedersehen? Wie geht es dir? Kannst du uns nie schreiben? Ich habe mir schon viel Kummer gemacht, wie es dir geht, wann man soviel liest in der Zeitung. Ich bin godseidank gesund, aber offne Füsse hab ich noch immer. Die Theres und Annamarie sind auch gesund. Dem Maurus geht es auch gut. Die Anna schreipt imer aus Amerika wie es dir geht.
    Vergis

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