Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Starnberger See, vom versenkbaren Tisch des Königs Ludwig II., der durch einen Knopfdruck fertig gedeckt in die Zimmermitte stieg, und endlich die Geschichte von einem unserer Vettern, dem es nicht in den Kopf gehen wollte, daß durch das Ziehen an einer einzigen Notbremse ein ganzer Zug zum Stehen gebracht werden konnte. Ich hörte gleichsam jedes seiner Worte wieder.
»Recht und schön! Jeder Wagen hat eine Bremse, das kapier’ ich, aber, aber – ah, ah, ausgeschlossen! … Das ist ja ganz und gar unmöglich!« hatte jener Vetter sich ereifert, »es mag ja sein, daß der Zug ein bißl langsamer fährt, daß die Lokomotive fester ziehn muß, aber daß alles – eins, zwei, drei – steht, das macht mir keiner weis! Ausgeschlossen!« Er ging zur Station, löste eine Fahrkarte, hockte eine Zeitlang im Abteil mit anderen Leuten, plötzlich sprang er auf und riß wortlos, mit aller Kraft, die Notbremse herunter. Die Fahrgäste glotzten, wichen entsetzt aus, erhoben sich und fingen entgeistert zu fragen an, was denn passiert sei. Unser Vetter ließ sich auf seinen Sitz fallen, hob leicht lächelnd den Zeigefinger und sagte seelenruhig: »Jetzt bin ich neugierig, wer recht hat!« Der Tumult der Leute kümmerte ihn nicht im geringsten. Er war nur gespannt. Nach kaum einer halben Minute stand der schüttelnde Zug.
»Sakra! Jetzt stimmt’s also doch!« rief der verblüffte Vetter und schlug die riesigen Hände klatschend auf seine prallen Schenkel. Der Unfug kostete ihn eine ziemlich hohe Geldsumme. – –
Wenn ich mir jetzt die vier Arbeiter aus der Moskauer Fabrik anschaute oder sah, wie neugierig und respektvoll die Kolchosbauern unsere Autos betrachteten, dann heimelte mich das an. Dann durchlief ich noch einmal meine früheste, schönste Jugend. Ich sah mein Heimatdorf, wie es langsam wuchs und zum vielbesuchten Fremdenort wurde. Es fiel mir ein, wie die Alten und Jungen bei uns einst die ersten auftauchenden Automobile umstanden, wie wir die moderne Brauerei vom Weinzierl von außen und innen bewunderten.
Wohin ich bis jetzt gekommen war im ungestüm werdenden Sowjetland, immer bedrängten mich solche Erinnerungen. Ich war wieder jung und glücklich und hatte das Gefühl, als finge jetzt erst mein eigentliches Leben an. An die Zeit, die zwischen dem Damals und Heute lag, dachte ich nicht mehr. Sie war ausgelöscht. Sie hatte sich gleichsam unbemerkt von mir abgelöst wie ein sinnloser innerer Ballast, wie etwas Gewesenes, das nie ganz zum Leben gekommen war.
Tiflis aber erweckte gerade dieses Gewesene wieder. Hier zerriß die Illusion des eben Erlebten, und mein Erinnern verlief in einer anderen Richtung, in einer weit persönlicheren, privateren!
Außer einem modernen Postamt, einigen administrativen Neubauten und den üblichen Sowjetbeamten konnten wir hier von dem Neuen, das uns überall begegnet war, nicht allzuviel entdecken. Diese uralte, verwitterte, wahllos zusammengewürfelte, wuchernd umgrünte Gebirgsstadt, die – wie man uns erzählte – wegen ihrer heißen, heilkräftigen Schwefelquellen im Verlaufe einer jahrhundertelangen, unausdenkbar grausigen Geschichte abwechselnd von persischen, türkischen, mongolischen oder hunnischen Eroberern zwanzigmal dem Erdboden gleichgemacht und immer wieder auferstanden war, sie schien von der Gegenwart kaum berührt und bot ein sonderbar verworrenes Bild jener längstverflossenen Zeiten. Auf der Reise hatten unsere russischen Begleiter Tiflis als ein bedeutendes Kulturzentrum gerühmt. Nun machte alles eher den bedrückenden Eindruck eines absteigenden oder zum mindesten stehengebliebenen Lebens, das tausendfach von Zufall und stumpf ertragenem Schicksal gestempelt war.
Schon die düsteren Zwingburgen ehemaliger Despoten aus dem dunkelsten Asien und dem nahen Orient, mehr aber noch die Straßenschilder in tatarischer, türkischer, arabischer, persischer, hebräischer oder grusinischer Sprache legten Zeugnis davon ab. Ganz selten sah man russische Schriftzeichen. Zäh und unausrottbar ist der menschliche Trieb zur Selbsterhaltung. Er paßt sich der größten Unterdrückung an, macht hoffnungslos, ungläubig und gleichgültig. Seine geduldige, friedfertige Kraft scheint jeder geschichtlichen Veranstaltung standzuhalten und sie schließlich zu überdauern. Die Mächtigen hatten gewechselt, die Völker waren geblieben. Alles, was einst aus fernen Ländern nach Tiflis gezogen und was von den damaligen blutigen Vernichtungskriegen übriggeblieben war, das
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