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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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glauben, dass er ihr das glaubte. Dieser abstoßende, unheimliche Mensch sollte verschwinden, das meinte sie. Als er stehen blieb und sie mit leerem, panischem Blick anstarrte, sagte sie: »Geh! Verschwinde! Du sollst verschwinden!« Sie sagte ihm, dass sie ihn hasste. Dass sie ihm ihr Leben geopfert hatte. Dass sie ihm blind vertraut hatte. Sie folgte ihm bis hinunter zur Tür, um ihm zu sagen, dass sie ihn nicht ein einziges Mal betrogen hatte. Sie befahl ihm nochmals, zu verschwinden.
    Sie rannte die Treppe hinauf, um das Torgitter nicht einrasten zu hören. Und dann lief sie durchs Haus und rief: »Jim! Jim!« Sie konnte es nicht glauben, dass er so etwas tat, dass er einfach ging. Sie konnte nichts davon glauben, nichts. »Jim«, rief sie. »Jim.«
    Der Hudson River war zu keiner Zeit ohne seine Kähne und Schlepper und Segelboote. Was Bob noch mehr fesselte, waren die Wandlungen, die der Fluss je nach Tageszeit und natürlich Wetterlage durchlief. Morgens lag das Wasser meist still und grau da, im Nachmittagslicht glitzerte es schwelgerisch, und an den Samstagen sahen die unzähligen Segelboote von Bobs Fenster im achtzehnten Stock aus wie eine Spielzeugflotte. Abends schlug die Sonne mächtige rosa und rote Funken, und das Wasser leuchtete wie ein zum Leben erwecktes Gemälde, dicke Pinselstriche, die zuckten und bebten, und die Lichter von New Jersey schienen einen anderen Kontinent zu markieren. All die Jahre, die er schon hier in New York lebte, hatte er sich (so empfand er jetzt) erstaunlich wenig für die Geschichte New Yorks interessiert. In Maine waren das große Heimatkundethema die Abenaki-Indianer gewesen, die jedes Frühjahr den Androscoggin River hinabpaddelten und unterwegs ihr Getreide pflanzten, das sie dann auf dem Rückweg ernteten. Aber hier floss der Hudson, und auf was konnte der erst alles zurückblicken! Bob kaufte sich Bücher, eins führte zum nächsten, bis er schließlich über Ellis Island nachlas, über das er natürlich Bescheid wusste, aber eben nicht richtig. (Niemand in Shirley Falls hatte Verwandte, die über Ellis Island ins Land gekommen waren.) Er sah sich Fernsehdokumentationen an, zum Bildschirm vorgebeugt, um diesen Menschen näher zu sein, die sich da in Scharen von Bord schoben, die an Land kamen mit solcher Hoffnung und solcher Bangigkeit, denn manche von ihnen – von den Ärzten für blind oder syphilitisch oder schlicht für verrückt erklärt – würde man wieder zurückschicken, und das wussten sie. Wenn sie passieren durften, wenn sie hereingelassen wurden, diese Menschen mit ihren ruckhaften Bewegungen in Schwarzweiß, empfand Bob für jeden Einzelnen von ihnen Erleichterung.
    Bob tat selbst die ersten Schritte in einer Welt, in der alles machbar erschien. Das geschah unerwartet, schleichend, aber doch auch zügig. Als mit dem Herbst der Alltag in die Stadt zurückkehrte, bewegte Bob sich zunehmend unbehindert von den Selbstzweifeln, die ihm so sehr zur zweiten Natur geworden waren, dass er den Unterschied erst begriff, als sie nun wie eine Kruste von ihm abfielen. Der August existierte für ihn nur als vage Erinnerung an Großstadtstaub, Großstadthitze und einen Sturm, der in seinem Innern tobte. Das Unvorstellbare war eingetreten, Jim gehörte nicht mehr zu seinem Leben. Zwischendurch erwachte er in heller Verzweiflung und konnte nichts denken als: Jim. Aber Bob war kein junger Mann mehr, und dies war nicht sein erster Verlust. Er kannte die Stille, die unvermittelt herrschte, das wilde Gleißen der Panik, und er wusste auch, dass jeder Verlust ein seltsames, kaum eingestandenes Gefühl der Befreiung mit sich brachte. Er neigte nicht besonders zur Selbstbetrachtung, und so grübelte er darüber nicht oft nach. Aber ab Oktober häuften sich die Tage, an denen er sich im Reinen mit sich fühlte, leichtfüßig und zugleich sanft geerdet. Ein bisschen war es wie damals als Kind, als er plötzlich gemerkt hatte, dass er beim Ausmalen nicht mehr über den Rand hinausmalte.
    In der Arbeit fiel ihm auf, dass man bei ihm lieber Rat suchte als bei anderen. Vielleicht war es ja immer schon so gewesen. Der Portier in seinem Haus begrüßte ihn mit »Hallo, Mr. Bob«, Rhoda und Murray öffneten ihre Tür: »Bobbele! Komm rein, trink ein Glas Wein mit uns!« Er hütete die kleinen Buben am Ende des Korridors, er führte den Hund einer Nachbarin aus, goss bei einer anderen während ihres Urlaubs die Blumen.
    In seiner Wohnung hielt er Ordnung, und das – deutlicher noch

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