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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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hierherziehen. Das war Abdikarims heimlicher Traum: dass seine Enkelsöhne kommen und mit ihm arbeiten würden. Was seine junge Ehefrau Asha und ihren gemeinsamen Sohn anging, so bekam er gelegentlich Fotos geschickt, und sein Herz blieb verschlossen. Der Ausdruck des Jungen war nie recht deutbar, auf den letzten Bildern schien er fast so hämisch zu lächeln wie manche adano -Jungen in der Gratham Street – als hätten sie niemanden, dem an ihnen lag oder der sie anleitete – , und Abdikarim verstand Haweeyas Ängste. Er bekam es ja mit, wie ihre Kinder den Eltern auf Englisch antworteten, wie sie untereinander die fürchterlichsten Wendungen gebrauchten. Voll cool. Megageil. Und je länger sie blieben, desto amerikanischer würden sie natürlich werden. Sie würden zu Bindestrich-Menschen. Somali-Amerikanern. Wie seltsam, dachte Abdikarim, sich derartig an ein Land zu binden, das sich jetzt in der Überzeugung gefiel, alle Somali seien Piraten. Im Frühjahr hatten somalische Piraten im Golf von Aden einen chinesischen Schiffskapitän getötet. Das sorgte für Bestürzung in der Gemeinschaft in Shirley Falls; niemand konnte das billigen. Aber die Nachrichtenleute hatten nicht den Ehrgeiz und vielleicht auch nicht die Fähigkeit, zu begreifen, dass die Küste dort von Giftmüll verseucht war, dass die Fischer nicht mehr fischen konnten wie früher – die Amerikaner begriffen einfach nicht, was Verzweiflung hieß. Viel einfacher und ganz sicher erfreulicher war es, den Golf von Aden als einen gesetzlosen Ort zu sehen, wo somalische Piraten regierten. Ein launischer Vater, das war Amerika. Einmal gütig und herzlich, dann wieder abschätzig und grausam. Bei dem Gedanken drückte sich Abdikarim die Finger an die Stirn; letzten Endes, so konnte man sagen, behandelte er seinen überlebenden Sohn, Ashas Sohn, nicht viel anders. Diese Einsicht stimmte ihn vorübergehend milder, nicht gegenüber dem Sohn, aber gegenüber Amerika. Das Leben war verzwickt, Entscheidungen mussten gefällt werden …
    »Ich sage es morgen Margaret Estaver«, sagte Haweeya. Sie sah zu Abdikarim hinüber, der nickte.
    Margaret Estavers Büro war wie Margaret. Leicht unorganisiert, freundlich, gastlich. Haweeya saß da und beobachtete diese Frau mit ihrem ungebärdigen, aus seiner Spange rutschenden Haar, die ihr zu einer Vertrauten geworden war. Margaret starrte konzentriert aus dem Fenster, seit Haweeya ihr von ihren Plänen berichtet hatte. »Ich dachte, Sie mögen die Verkehrsampeln so gern«, sagte Margaret schließlich.
    »Ja. Ich liebe die Verkehrsampeln. Die Menschen gehorchen ihnen. Ich liebe die Verfassung. Aber meine Kinder … « Haweeya hob die Hände. »Sie sollen Afrikaner sein. Und das werden sie nicht, wenn wir hierbleiben.« Seit einer halben Stunde wiederholte Haweeya diese Dinge nun schon. Ihr Bruder hatte sich in Kenia ein Geschäft aufgebaut, ihr Mann war einverstanden. Immer und immer wieder.
    Margaret nickte. »Sie werden mir fehlen«, sagte sie.
    Ein Windstoß ließ die Blätter draußen rascheln, und das halb geöffnete Fenster rutschte mit einem scharfen Knall herunter. Haweeya drückte die Schultern durch und wartete, bis ihr Herzschlag sich beruhigt hatte. Dann sagte sie: »Sie werden mir auch fehlen.« Sie spürte sehr deutlich, welchen Schmerz dieses Gespräch brachte. »Andere Menschen brauchen Ihre Hilfe, Margaret. Ihre Arbeit ist sehr wichtig.«
    Margaret Estaver lächelte sie müde an und beugte sich vor, um das Fenster wieder hochzuschieben. »Tut mir leid wegen dem Knall eben«, sagte sie und klemmte ein Buch zwischen Fenster und Fensterrahmen, bevor sie sich zurück zu Haweeya wandte, die im Stillen schockiert war, zu sehen, dass das Buch eine Bibel war.
    Haweeya sagte: »In Amerika dreht sich alles um Einzelmenschen. Um Selbstverwirklichung. Im Laden beim Einkaufen, im Wartezimmer beim Arzt, in jeder Zeitung, die man aufschlägt – immer nur ich, ich, ich. Aber in meiner Kultur geht es um die Gemeinschaft und die Familie.«
    »Das weiß ich, Haweeya«, sagte Margaret. »Sie müssen mir nichts erklären.«
    »Ich will es aber erklären. Ich will nicht, dass meine Kinder denken, sie haben – wie heißt das Wort? – Anspruch. Die Kinder hier lernen, dass sie Anspruch auf alles haben. Wenn ein Kind etwas fühlt, dann spricht es das aus, auch wenn es beleidigend für die Älteren ist. Und die Eltern sagen: Oh, gut, es verwirklicht sich. Sie sagen: Ich will, dass mein Kind seine Ansprüche kennt.«
    »Das

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