Das Leben und das Schreiben
immer, Mike von einer Nacht in dem Zimmer abbringen zu können. Sonst hätte er Mike nämlich an die Rezeption geschickt … oder hätte den Koffer selbst dort abgestellt. »Gestatten Sie …«
»Danke, der ist ganz leicht«, sagte Mike. »Nur ein paar Sachen zum Wechseln und meine Zahnbürste.«
»Sie sind also fest entschlossen?«
»Ja«, erwiderte Mike und blickte ihn unverwandt an. »Das bin ich, fürchte ich.«
Einen kurzen Moment lang dachte Mike, Ostermeyer würde aufgeben. Er seufzte – ein kleiner rundlicher Mann in einem dunklen Cut mit sorgfältig gebundener Krawatte. Dann drückte er die Schultern wieder durch. »Wie Sie wünschen, Mr. Enslin. Kommen Sie bitte mit.«
Draußen in der Hotelhalle hatte der Direktor zögerlich, deprimiert, fast niedergeschlagen gewirkt. In seinem mit Eiche getäfelten Büro, an dessen Wänden alte Bilder des Hotels hingen (das Dolphin war im Oktober 1910 eröffnet worden – Mike genoss vielleicht nicht den Vorzug, dass seine Bücher in Zeitschriften oder Großstadtblättern besprochen wurden, aber er recherchierte gründlich), schien Ostermeyer seine Selbstsicherheit zurückzugewinnen. Auf dem Parkett lag ein Orientteppich. Zwei Stehlampen spendeten mildes gelbliches Licht. Auf dem Schreibtisch stand neben einem Humidor eine Tischlampe mit einem rautenförmigen grünen Glasschirm. Und neben dem Humidor lagen die letzten drei Bücher, die Mike Enslin geschrieben hatte. Natürlich alles Taschenbücher; gebundene Ausgaben hatte es keine gegeben. Aber dennoch lief es ganz gut. Mein Gastgeber hat seinerseits ein bisschen recherchiert , dachte Mike.
Mike setzte sich in einen der Stühle vor den Schreibtisch. Er hatte erwartet, Ostermeyer werde dahinter Platz nehmen, was ihm gewisse Autorität verleihen würde, aber Ostermeyer überraschte ihn. Er setzte sich in den anderen Stuhl vor den Tisch, was für ihn wahrscheinlich die Seite der Angestellten war, schlug die Beine übereinander und beugte sich dann über seinen straffen kleinen Schmerbauch nach vorn, um den Humidor zu berühren.
»Zigarre, Mr. Enslin? Zwar nicht aus Kuba, aber trotzdem recht gut.«
»Nein danke. Ich rauche nicht.«
Ostermeyers Blick fiel auf die Zigarette hinter Mikes rechtem Ohr – in einem flotten Winkel dort geparkt, wie in alten Zeiten ein Witze reißender Reporter seinen nächsten Glimmstängel genau unter seinem weichen Filzhut mit dem Presseausweis im Band hätte parken können. Die Zigarette war so sehr Teil seiner selbst geworden, dass Mike im ersten Augenblick wirklich nicht wusste, was Ostermeyer anstarrte. Dann fiel es ihm wieder ein. Er lachte, nahm sie herunter, betrachtete sie und sah wieder zu Ostermeyer hinüber.
»Hab seit neun Jahren keine Zigarette mehr angesteckt«, sagte er. »Mein älterer Bruder ist an Lungenkrebs gestorben. Kurz nach seinem Tod habe ich das Rauchen aufgegeben. Die Zigarette hinter dem Ohr …« Er zuckte die Achseln. »Halb Affektiertheit, halb Aberglauben, denke ich. So wie die, die manche Leute auf ihrem Schreibtisch stehen oder an der Wand hängen haben – in einem verglasten Kästchen, auf dem IM NOTFALL SCHEIBE EINSCHLAGEN steht. Manchmal sage ich, ich zünde sie mir an, wenn es einen Atomkrieg gibt. Ist 1408 ein Raucherzimmer, Mr. Ostermeyer? Nur für den Fall, dass ein Atomkrieg ausbricht?«
»Es ist tatsächlich eines.«
»Nun«, sagte Mike nachdrücklich, »wenigstens eine Sorge weniger in den stillen Stunden dieser Nacht.«
Mr. Ostermeyer seufzte wieder, nicht amüsiert, aber dieser hatte nicht den untröstlichen Charakter seines Hotelhallenseufzers. Ja, das liegt am Zimmer, sagte sich Mike. Seinem Zimmer. Selbst am Nachmittag, als Mike mit seinem Anwalt Robertson hier aufgekreuzt war, hatte Ostermeyer weniger durcheinander gewirkt, sobald sie in seinem Büro waren. Mike hatte gedacht, es läge teilweise daran, dass sie dort keine Blicke von den sie passierenden Gästen auf sich zogen, und teilweise daran, dass Ostermeyer aufgegeben hatte. Jetzt wusste er es besser. Es lag am Zimmer. Und warum auch nicht?
Das Zimmer hatte gute Bilder an den Wänden, einen guten Teppich auf dem Fußboden und gute Zigarren im Humidor, wenn auch nicht aus Kuba. Seit Oktober 1910 hatten hier zweifellos viele Direktoren viele Geschäfte abgewickelt; auf seine Art verkörperte dieser Raum ebenso New York wie die blonde Frau in ihrem schulterfreien schwarzen Kleid, wie der Duft ihres Parfüms und ihr unausgesprochenes Versprechen von schickem Sex in den frühen
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