Das Leben und das Schreiben
Billardkugel. Er beäugt mich von oben bis unten.
Ich bestätige ihm, ich hätte mich nicht wohlgefühlt.
»Schade, dass du den ganzen Spaß verpasst«, meint die Alte Billardkugel. »Geht’s dir inzwischen besser?«
Ja. Es ging mir besser. Wahrscheinlich so ein 24-Stunden-Magen-und-Darm-Virus.
»Dann will ich hoffen, dass du dir diesen Virus nicht noch einmal einfängst«, sagt er. »Wenigstens nicht auf dieser Fahrt.« Er schaut mich einen Augenblick lang an. Seine Augen fragen, ob wir uns verstanden haben.
»Ganz bestimmt nicht«, antworte ich und meine es auch so. Jetzt weiß ich, wie es ist, betrunken zu sein: ein vages Gefühl überschwänglicher Gutmütigkeit, dazu ein deutlicheres Gefühl, ein vom Körper losgelöstes Bewusstsein zu haben, das über einem schwebt wie eine Kamera in einem Science-Fiction-Film und alles aufnimmt … und dann die Übelkeit, das Erbrechen, die Kopfschmerzen. Nein, diesen Virus wollte ich mir kein zweites Mal holen, sagte ich mir. Nicht auf dieser Fahrt, überhaupt nie wieder. Einmal reicht, nur um herauszufinden, wie das ist. Nur ein Idiot würde es ein zweites Mal probieren, und höchstens ein Verrückter, ein masochistischer Verrückter würde Alkohol zu einem Teil seines Lebens machen.
Am nächsten Tag fahren wir nach Washington und machen eine Pause im Land der Amish. In der Nähe des Busparkplatzes gibt es eine Spirituosenhandlung. Ich betrete sie und sehe mich um. In Pennsylvania muss man einundzwanzig Jahre alt sein, um trinken zu dürfen, doch in meinem guten Anzug und »Fazzas« altem schwarzen Mantel sehe ich bestimmt alt genug aus. Wahrscheinlich wirke ich wie ein frisch entlassener junger Häftling: groß, hungrig und nicht ganz ordentlich zusammengeschraubt. Der Angestellte verkauft mir ein Fünftel Four Roses, ohne mich nach meinem Ausweis zu fragen, und als wir abends anhalten, bin ich schon wieder betrunken.
Ungefähr zehn Jahre später sitze ich mit Bill Thompson in einem irischen Pub. Wir haben einiges zu feiern, darunter nichts Geringeres als die Fertigstellung meines dritten Buches Shining (Originaltitel: The Shining ). Das ist der Roman, der zufällig von einem alkoholkranken Schriftsteller und ehemaligen Lehrer handelt. Es ist Juli, im Fernsehen läuft das All-Star-Baseballspiel. Wir haben vor, eins der guten, alten Gerichte zu essen, die auf der Warmhalteplatte stehen, und uns dann die Kante zu geben. Wir beginnen mit einigen Drinks an der Theke, und ich lese die Aufkleber an den Spiegeln: TRINK EINEN MANHATTAN IN MANHATTAN!, steht auf einem. DIENSTAGS ALLES FÜR DIE HÄLFTE, steht auf einem anderen Aufkleber. ARBEIT IST DER FLUCH DER TRINKENDEN KLASSE, besagt ein dritter. Und genau vor mir ist einer, auf dem steht: SPEZIELL FÜR FRÜHAUFSTEHER: SCREWDRIVERS MONTAGS BIS FREI-TAGS 8-10 UHR NUR EINEN DOLLAR!
Ich winke dem Barkeeper. Er kommt herüber. Er ist kahl und trägt ein graues Jackett. Er könnte der Typ sein, der mir 1966 die erste Flasche verkaufte. Ist er wahrscheinlich auch. Ich weise auf den Aufkleber für Frühaufsteher und frage: »Wer kommt denn morgens um Viertel nach acht schon in die Bar und bestellt einen Screwdriver?«
Ich lächele, aber er erwidert mein Lächeln nicht. »Collegejungs«, antwortet er. »So wie Sie.«
33
1971 oder 1972 starb Mutters Schwester Carolyn Weimer an Brustkrebs. Meine Mutter und meine Tante Ethelyn (Carolyns Zwillingsschwester) flogen zur Beerdigung von Tante Cal nach Minnesota. Es war der erste Flug meiner Mutter nach zwanzig Jahren. Auf dem Rückflug bekam sie starke Blutungen »da unten«, wie sie sich wohl ausgedrückt hätte. Obwohl sie ihre Wechseljahre damals schon lange hinter sich hatte, redete sie sich ein, es sei nur eine letzte Menstruationsblutung. Eingeschlossen in die winzige Toilette des hüpfenden TWA-Jets, stillte sie die Blutung mit Tampons ( stopf es zu, stopf es zu, wie Sue Snell und ihre Freundinnen vielleicht gerufen hätten) und kehrte dann an ihren Platz zurück. Sie erzählte Ethelyn nichts davon, auch David und mir nicht. Auch suchte sie nicht Joe Mendes in Lisbon Falls auf, ihren Hausarzt seit Menschengedenken. Stattdessen nahm sie die Haltung an, die sie immer einnahm, wenn es Probleme gab: Meine Angelegenheiten gehen niemanden etwas an. Eine Zeit lang schien es gut zu gehen. Sie hatte Spaß an ihrer Arbeit, mit ihren Freundinnen und an ihren vier Enkelkindern, zwei von Daves Familie und zwei von meiner. Dann ging es plötzlich nicht mehr gut. Im Laufe einer
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