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Das Leben und das Schreiben

Das Leben und das Schreiben

Titel: Das Leben und das Schreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Kontrolluntersuchung nach einer Operation, bei der ein paar ihrer unglaublichen Krampfadern gezogen worden waren, wurde im August 1973 bei meiner Mutter Gebärmutterkrebs diagnostiziert. Ich denke aber, dass Nellie Ruth Pillsbury King, die einmal eine riesige Portion Wackelpudding auf den Boden stürzte und dann darin tanzte, während ihre beiden Jungen schreiend vor Lachen in der Ecke lagen, in Wirklichkeit an Scham starb.
    Das Ende kam im Februar 1974. Damals floss mir durch Carrie schon ein bisschen Geld zu, sodass ich die Kosten für Arzt und Medizin mittragen konnte – das war auch das einzig Positive. Und ich war bis zum Ende dabei, wohnte im hinteren Schlafzimmer von Dave und Linda. Am Abend zuvor hatte ich mich betrunken, doch ich hatte zum Glück nur einen leichten Kater. Man möchte nicht mit einem zu großen Brummschädel am Totenbett der eigenen Mutter sitzen.
    Dave weckte mich morgens um Viertel nach sechs. Leise rief er durch die Tür, er denke, es sei bald vorbei. Als ich in das große Schlafzimmer kam, saß er neben ihr auf dem Bett und hielt ihr eine Kool-Zigarette hin. Zwischen verzweifelten Atemzügen zog sie daran. Sie war nur halb bei Bewusstsein, und ihr Blick ging von Dave zu mir und wieder zurück zu Dave. Ich setzte mich neben Dave, nahm die Zigarette und hielt sie ihr an den Mund. Ihre Lippen suchten und umklammerten den Filter. Neben ihrem Bett, gespiegelt in den ganzen Gläsern, lagen die ersten gebundenen Druckfahnen von Carrie. Tante Ethelyn hatte ihr daraus vor ungefähr einem Monat vorgelesen.
    Mutters Augen gingen von Dave zu mir, von Dave zu mir, von Dave zu mir. Sie war von achtzig Kilo auf ungefähr fünfundvierzig Kilo abgemagert. Ihre Haut war gelb und so straff gespannt, dass sie wie eine der Mumien aussah, die am Tag der Toten durch die Straßen von Mexiko marschieren. Abwechselnd hielten wir ihr die Zigarette hin. Als sie bis zum Filter heruntergeraucht war, drückte ich sie aus.
    »Meine Jungen«, sagte sie, dann fiel sie in einen Zustand, der entweder Schlaf oder Ohnmacht sein konnte. Mein Kopf schmerzte. Ich nahm mir ein paar Aspirin aus einem der vielen Medizinfläschchen auf ihrem Nachttisch. Dave hielt ihre eine Hand, ich die andere. Unter der Bettdecke lag nicht mehr der Körper unserer Mutter, sondern der eines ausgezehrten, entstellten Kindes. Dave und ich rauchten und unterhielten uns ein bisschen. Ich weiß nicht mehr, was wir sagten. In der Nacht zuvor hatte es geregnet, dann war die Temperatur gefallen, und am Morgen waren die Straßen mit Eis überzogen. Wir hörten, dass die Pausen nach jedem ihrer keuchenden Atemzüge länger wurden. Schließlich atmete sie nicht mehr, und alles stand still.

34
     
    Meine Mutter wurde vor der Kirche der Freien Gemeinden in der Southwest Bend beigesetzt. Die Kirche, die sie in Methodist Corners, wo mein Bruder und ich aufwuchsen, besucht hatte, war wegen der Kälte geschlossen. Ich hielt die Grabrede. Ich glaube, ich meisterte meine Aufgabe ganz gut, wenn man bedenkt, wie betrunken ich war.

35
     
    Alkoholiker bilden Abwehrmauern um sich, wie die Holländer Deiche bauen. In den ersten zwölf Jahren meines Ehelebens redete ich mir ein, dass ich »einfach gern trank«. Und ich bemühte auch die weltberühmte Hemingway-Ausrede. Sie wird zwar nie richtig ausformuliert (das wäre nicht gerade männlich), doch sie lautet ungefähr so: Als Schriftsteller bin ich ein sehr empfindsamer Zeitgenosse, aber gleichzeitig bin ich ein Mann, und echte Männer geben ihren Empfindlichkeiten nicht nach. Das tun nur Weicheier . Deshalb trinke ich. Wie sonst soll ich mit all den Existenzängsten zurechtkommen und dabei weiterarbeiten? Außerdem kann ich damit umgehen. Ein echter Mann kann das.
    Dann erließ der Staat Maine in den frühen Achtzigern ein Gesetz für Pfandflaschen und -dosen. Bisher waren meine 16-Ounce-Miller-Lite-Dosen in den Müll gewandert, jetzt kamen sie in den Plastikcontainer in der Garage. An einem Donnerstagabend ging ich nach draußen, um ein paar tote Kameraden zu entsorgen, und sah, dass der Container, der am Montagabend geleert worden war, schon wieder fast voll war. Und da ich der Einzige im Haus war, der Miller Lite trank …
    Du meine Scheiße, ich bin Alkoholiker, dachte ich, und es erhob sich kein Widerspruch in meinem Kopf – immerhin war ich der Typ, der Shining geschrieben hatte, ohne zu merken, dass ich von mir selbst erzählte (wenigstens bis zu diesem Abend). Weder leugnete noch widersprach etwas in mir

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