Das Leben und das Schreiben
Kapitels. Mir gehen verschiedene Dinge durch den Kopf. Einige davon Sorgen (meine schlechten Augen, die noch nicht einmal begonnenen Weihnachtseinkäufe, meine Frau liegt mit einem Virus danieder), einige Lichtblicke (unser jüngster Sohn kam überraschend aus dem College zu Besuch, bei einem Konzert habe ich mit den Wallflowers Vince Taylor’s »Brand New Cadillac« gespielt), aber das alles ist jetzt weit weg. Ich bin woanders, an einem unterirdischen Ort mit hellem Licht und klaren Bildern. Diesen Ort habe ich mir im Laufe der Jahre eingerichtet. Es ist ein Ort mit Fernblick. Ich weiß, das hört sich komisch an, ein unterirdischer Ort mit Fernblick klingt doch sehr widersprüchlich, aber so ist das eben bei mir. Wenn Sie sich Ihren eigenen Ort mit Fernblick erwählen, können Sie den ja auf einem Baumwipfel oder auf dem Dach des World Trade Center oder am Rand des Grand Canyon platzieren. Das ist Ihr kleiner roter Wagen, wie Robert McCammon in einem seiner Romane sagt.
Dieses Buch soll im Spätsommer oder frühen Herbst 2000 erscheinen. Wenn das klappt, dann sind Sie auf dem Zeitstrahl ein ganzes Stück stromabwärts … aber wahrscheinlich befinden auch Sie sich an Ihrem Ort mit Fernblick, Ihrer Empfangsstation für telepathische Nachrichten. Sie müssen natürlich nicht unbedingt dort sein; schließlich ist die Magie eines Buches standortunabhängig. Im Auto lasse ich gern Hörbücher laufen (nur ungekürzte Fassungen; meiner Meinung nach sind gekürzte Hörbücher das Allerletzte), und auch sonst habe ich immer ein Buch dabei. Man weiß ja nie, wann man so eine Fluchtmöglichkeit gebrauchen kann: bei meilenlangen Schlangen vor Autobahn-Zahlstellen, in der Viertelstunde, die man auf dem Flur eines langweiligen Colleges sitzt und auf den Studienberater wartet (dem gerade ein nervtötender Student mit Selbstmord droht, weil er durch die Einführung in die Grundlagen des Kurmfurling gerasselt ist), bis er endlich herauskommt und seine Unterschrift unter die Teilnahmebescheinigung setzt; in Wartesälen am Flughafen, in Waschsalons an verregneten Nachmittagen und, das Allerschlimmste, im Wartezimmer eines Arztes, der seinem Terminplan so hinterherhinkt, dass Sie eine halbe Stunde warten müssen, bis er etwas Empfindliches befummelt. Bei solchen Gelegenheiten spendet mir ein Buch Kraft. Ich glaube, es würde mir nichts ausmachen, im Fegefeuer zu schmoren, solange es dort eine Leihbücherei gibt (wenn ja, dann führt sie bestimmt einzig und allein Romane von Danielle Steel und die Hühnersuppe-für-die-Seele -Bücher, haha, da bist du angeschmiert, Steve).
Ich lese also, wo immer ich kann, aber ich habe einen Lieblingsplatz und Sie wahrscheinlich auch. Einen Ort, wo das Licht gut und der Empfang normalerweise stark ist. Bei mir ist das der blaue Sessel im Arbeitszimmer. Bei Ihnen ist es vielleicht die Bank auf der Sonnenveranda, der Schaukelstuhl in der Küche oder möglicherweise sogar Ihr Bett – im Bett schmökern kann himmlisch sein, vorausgesetzt, man hat genug Licht und neigt nicht dazu, den Kaffee oder Cognac auf der Bettdecke zu verschütten.
Nehmen wir also an, dass Sie sich an Ihrem bevorzugten Empfangsort befinden, so wie ich an dem Platz bin, von dem aus ich am besten senden kann. Bei unserem kleinen Zaubertrick müssen wir nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Distanz überbrücken, doch das stellt kein wirkliches Hindernis dar: Wenn wir heute noch Dickens, Shakespeare und (mithilfe der einen oder anderen Fußnote) Herodot lesen können, dann schaffen wir wohl auch den Sprung von 1997 in das Jahr, in dem Sie das hier lesen. Und los geht es: echte Telepathie in Aktion. Sie sehen, dass ich nichts in den Ärmeln versteckt habe und sich meine Lippen nicht bewegen. Ihre höchstwahrscheinlich auch nicht.
Sehen Sie her: Vor mir steht ein Tisch, der mit einem roten Tuch bedeckt ist. Darauf steht ein Käfig von der Größe eines kleinen Aquariums. Im Käfig befindet sich ein weißer Hase mit rosa Nase und rosa geränderten Augen. In den Vorderpfoten hält er ein Stück Möhre, an dem er genüsslich mümmelt. Auf seinem Rücken steht deutlich in blauer Farbe die Nummer Acht.
Haben wir das Gleiche vor Augen? Wir müssten uns zusammensetzen und unsere Aufzeichnungen vergleichen, um vollkommen sicher zu sein, aber ich denke, es stimmt schon. Natürlich gibt es ein paar unvermeidliche Varianten: Manche Empfänger sehen eine leuchtend rote Decke, andere eine scharlachrote, wieder andere nehmen
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