Das Leben und das Schreiben
Freund« oder »die Hure mit dem goldenen Herzen« gibt. Im wahren Leben sieht sich jeder als Hauptfigur, als Protagonist, als hohes Tier. Die Kamera ist immer auf uns gerichtet, Baby. Wenn Sie diese Haltung in Ihre Texte einbringen können, wird es zwar nicht einfacher, brillante Figuren zu erschaffen, aber es wird Ihnen schwerer fallen, diese eindimensionalen Reißbrettfiguren zu erschaffen, die heutzutage die Pop-Romane bevölkern.
Die Krankenschwester Annie Wilkes, die Paul Sheldon in Sie gefangen hält, mag uns vielleicht verrückt erscheinen, doch dürfen wir nicht vergessen, dass sie in ihren eigenen Augen vollkommen normal und vernünftig ist – sogar eine Heldin, eine angefeindete Frau, die in einer grausamen Welt voller bedummdusselter Bälger überleben will. Wir beobachten, dass sie gefährlichen Stimmungsschwankungen unterworfen ist, aber ich habe mich bemüht, niemals platt zu schreiben: »An dem Tag war Annie depressiv und trug sich mit Selbstmordgedanken« oder »An dem Tag wirkte Annie ganz besonders fröhlich«. Wenn ich das ausdrücklich erwähnen muss, habe ich verloren. Wenn ich dem Leser jedoch andererseits eine stille Frau mit ungewaschenem Haar vorführe, die zwanghaft Kuchen und Süßigkeiten in sich hineinstopft, und der Leser daraus den Schluss zieht, dass sich Annie in einer depressiven Phase ihrer manisch-depressiven Krankheit befindet, habe ich gewonnen. Und gelingt es mir dann obendrein, dem Leser die Welt mit den Augen von Annie zu zeigen – wenn ich ihn dazu bringe, ihre verrückten Gedanken zu verstehen -, dann kommt es vielleicht so weit, dass er Mitleid mit ihr hat oder sich gar mit ihr identifiziert. Was ist die Folge? Sie ist beängstigender denn je zuvor, weil sie so realitätsnah ist. Hätte ich sie jedoch zu einem schnatternden alten Weib gemacht, wäre sie nur eine von vielen bösen Hexen. Dann hätte ich haushoch verloren, ebenso wie der Leser. Wer will sich die Zeit schon mit so einer abgedroschenen Giftspritze vertreiben? So eine Annie war schon überholt, als Der Zauberer von Oz herauskam.
Die Frage ist wohl berechtigt, ob ich Paul Sheldon aus Sie bin. Teilweise ganz bestimmt – aber ich glaube, wenn Sie diesen Beruf länger ausüben, werden Sie schnell merken, dass ein Teil von Ihnen in jeder geschaffenen Figur steckt. Wenn Sie sich fragen, was eine bestimmte Person unter bestimmten Umständen tun würde, leiten Sie die Antwort von dem ab, was Sie tun, oder im Falle eines Bösewichts, nicht tun würden. Hinzu kommen die angenehmen und abstoßenden Charakterzüge, die Sie an anderen wahrnehmen (zum Beispiel jemand, der in der Nase bohrt, wenn er sich unbeobachtet glaubt). Und dann gibt es noch ein wunderbares drittes Element: die reine, ungetrübte Fantasie. Sie erlaubte es mir, in der Zeit, als ich Sie schrieb, eine wahnsinnige Krankenschwester zu sein. Und im Großen und Ganzen war es gar nicht schwer, mich in Annie hineinzuversetzen. Eigentlich hat es sogar Spaß gemacht. Paul zu sein war schwerer. Er war bei gesundem Verstand, ich bin bei gesundem Verstand, da gab’s keine vier Tage in Disneyland.
Meinem Roman Dead Zone – Das Attentat liegen zwei Fragen zugrunde: Kann ein politischer Attentäter eventuell eine Berechtigung für seine Tat haben? Und wenn ja, könnte er dann der Held eines Buches sein? Der Gute? Diese Idee erforderte meiner Meinung nach als Gegenspieler einen gefährlich labilen Politiker – einen Menschen, der die politische Karriereleiter erklimmt, indem er der Welt ein vergnügtes, leutseliges Gesicht präsentiert, und der die Wähler für sich einnimmt, weil er sich weigert, das Spiel auf die übliche Art zu spielen. (Die Wahlkampftaktik von Greg Stillson, die ich vor zwanzig Jahren erdachte, ähnelte stark der von Jesse Ventura, als er sich erfolgreich um den Gouverneurssitz von Minnesota bewarb. Gott sei Dank scheint Ventura ansonsten keine Ähnlichkeit mit Stillson zu haben.)
Der Held aus Dead Zone – Das Attentat, Johnny Smith, ist ebenfalls ein alltäglicher, leutseliger Kerl, nur dass es bei Johnny nicht aufgesetzt ist. Das Einzige, was ihn von anderen Menschen unterscheidet, ist seine infolge eines Unfalls im Kindesalter erworbene Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen. Als Johnny Greg Stillson bei einer Wahlkampfveranstaltung die Hand schüttelt, hat er eine Vision, dass Stillson irgendwann Präsident der Vereinigten Staaten wird und den dritten Weltkrieg auslöst. Johnny gelangt zu der Überzeugung, dass es nur eine Möglichkeit
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