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Das Leben und das Schreiben

Das Leben und das Schreiben

Titel: Das Leben und das Schreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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wenn sie sich mit dem Hammer auf den Daumen schlagen. Wenn Sie »O Scheiße!« mit »O Scheibenhonig!« ersetzen, weil Sie die Anstandslegionäre im Hinterkopf haben, dann brechen Sie den unsichtbaren Vertrag, der zwischen Schreiber und Leser besteht: Ihr Versprechen, Taten und Gespräche von Menschen in einer erfundenen Geschichte wahrhaftig wiederzugeben.
    Andererseits könnte eine Ihrer Figuren (beispielsweise die alte unverheiratete Tante des Helden) tatsächlich »O Scheibenhonig!« statt »O Scheiße!« sagen, wenn sie sich mit dem Hammer auf den Daumen schlägt. Wenn Sie Ihre Figur kennen, werden Sie schon wissen, was Sie nehmen müssen. Und wir lernen dadurch etwas über den Sprecher, das ihn oder sie für uns anschaulicher und interessanter macht. Es geht darum, jede einzelne Person ungezwungen sprechen zu lassen, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob die Anstandslegionäre oder der Lesekreis christlicher Frauen darüber die Nase rümpft. Alles andere wäre feige und unehrlich, und das können Sie mir glauben: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Amerika Prosa zu schreiben, ist kein Job für intellektuelle Feiglinge. Es gibt eine Unmenge von Möchtegernzensoren im Land, und wenn sie auch unterschiedliche Motive haben, so ist ihnen doch dasselbe Ziel zu eigen: Alle Menschen sollen die Welt mit ihren Augen sehen … oder wenigstens den Mund halten und verschweigen, was sie anders sehen. Diese Zensoren sind die Bewahrer des Status quo. Nicht unbedingt schlimme Leute, aber gefährlich sind sie schon, wenn man an intellektuelle Freiheit glaubt.
    Zufälligerweise vertrete ich die Ansicht meiner Mutter: Vulgäre Kraftausdrücke sind wirklich die Sprache der Unwissenden und sprachlich Benachteiligten. Meistens jedenfalls; denn es gibt ein paar Ausnahmen, darunter unflätige Sprüche von großer Ausdruckskraft und Eingängigkeit: Da habe ich wieder mal die Arschkarte gezogen; ich hab mehr zu tun als ein Einbeiniger bei der Weltmeisterschaft im Arschtreten; in einer Hand Scheiße, in der anderen einen Wunsch – was sich wohl schneller erfüllt? Diese und ähnliche Sätze sind nichts für den Teesalon, aber sie sind eingängig und treffend. Oder nehmen Sie diesen Absatz aus Watsons Brainstorm (Originaltitel: Brain Storm ) von Richard Dooling, in dem das Vulgäre zu Poesie wird:
    »Euer Ehren, wir bitten das hohe Gericht, das Corpus defickti, ich meine, das Corpus delikti, als Beweisstück Nummer 1 bis unendlich aufzunehmen: Einen rüpelhaften, dickköpfigen Penis, einen barbarischen Mösophagen ohne einen Fliegenschiss Anstand im Leib. Den Oberdreckskerl unter den Lumpenkerlen. Einen mukösen, vermiformen Schlappschwanz mit einem reptilischen Funkeln im polyphemischen Auge. Einen aufgeblasenen Truthahn, der in den finstren Gewölben des Fleisches zuschlägt wie ein peniler Donnerkeil. Einen geifernden Köter, einzig gierend nach Zwielicht, schlüpfrigen Schlitzen, Thunfisch, Ekstase und Schlaf …«
    Ich möchte Ihnen noch eine andere Passage von Dooling zeigen, wenn auch keinen Dialog, weil sie das Gegenteil beweist: Man kann bewundernswert anschaulich sein, ohne vulgär oder ordinär werden zu müssen:
    Sie setzte sich rittlings auf ihn und schickte sich an, die nötigen Anschlussverbindungen herzustellen, Stecker und Buchse bereit, I/0 aktiviert, Server/Client, Master/Slave. Zwei leistungsfähige biologische Maschinen, die gerade eine stehende Modemverbindung aufbauten, um einen wechselseitigen Zugriff auf den jeweils anderen Hauptprozessor zu ermöglichen.
    Wenn ich Henry James oder Jane Austen wäre und nur über eingebildete Fatzken oder superschlaue College-Leute schriebe, müsste ich wohl nie ein schmutziges Wort oder einen unflätigen Ausdruck verwenden; dann wäre wohl keines meiner Bücher in Bibliotheken amerikanischer Schulen verboten worden, und ich hätte nie einen Brief von einem hilfreichen Fundamentalisten bekommen, der mich wissen lassen wollte, dass ich in der Hölle schmoren werde, wo ich mit meinen ganzen Millionen nicht mal ein einziges Glas Wasser kaufen könne. Aber ich bin nicht unter solchen Menschen groß geworden. Ich wuchs auf als Angehöriger der unteren Mittelklasse Amerikas und kann ehrlich über diese Leute schreiben, weil ich sie kenne. Das heißt, dass sie öfter Scheiße als Scheibenhonig rufen, wenn sie sich auf den Finger schlagen, aber damit habe ich mich inzwischen abgefunden. Eigentlich habe ich damit nie so richtig auf Kriegsfuß gestanden.
    Wenn ich einen dieser Briefe bekomme

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