Das Leben und das Schreiben
oder wieder über eine Kritik stolpere, die mich beschuldigt, ein vulgärer Prolet zu sein, was ich in gewissem Maße auch bin, tröste ich mich mit den Worten des Realisten und Sozialisten Frank Norris, der um die Jahrhundertwende lebte und Romane schrieb wie Der Octopus (Originaltitel: The Octopus ) , Die Getreidebörse (Originaltitel: The Pit ) und Gier nach Gold (Originaltitel: McTeague ), ein großes, authentisches Buch. Norris schrieb über Arbeiter auf Ranchen, in der Stadt, in Fabriken. McTeague, die Hauptfigur in Norris’ bestem Buch, ist ein ungeschulter Zahnarzt. Seine Bücher riefen enormen öffentlichen Protest hervor, worauf Norris kühl und verächtlich antwortete: »Was kümmert mich deren Meinung? Ich bin noch nie zu Kreuze gekrochen. Ich hab die Wahrheit gesagt.«
Es gibt natürlich Menschen, die die Wahrheit nicht hören wollen, aber das ist nicht Ihr Problem. Ein Problem wäre, wenn Sie Schriftsteller werden wollten, ohne dabei frank und frei zu sein. Sprache, ob hässlich oder schön, gibt Hinweise auf den Charakter; und sie kann kühlen, frischen Wind in ein Zimmer wehen, das manche Leute lieber verschlossen ließen. Letztlich ist es nicht ausschlaggebend, ob die Gespräche in Ihrer Geschichte heilig oder gottlos sind; wichtig ist allein, wie sie auf dem Papier und im Ohr klingen. Wenn sie glaubwürdig klingen sollen, dann müssen Sie selbst viel sprechen … und noch wichtiger: Sie müssen den Mund halten und den anderen beim Sprechen zuhören.
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Alles, was ich über Dialoge gesagt habe, gilt ebenfalls für die Gestaltung der Figuren im Roman. Dieser Job lässt sich auf zwei Gebote reduzieren: Beobachten, wie sich die Leute in Ihrem Umfeld verhalten, und diese Beobachtung dann ehrlich wiedergeben. Vielleicht haben Sie bemerkt, dass Ihr Nachbar in der Nase bohrt, wenn er sich unbeobachtet glaubt. Ein tolles Detail, aber diese Feststellung nutzt Ihnen als Autor erst dann etwas, wenn Sie sie irgendwo in einer Geschichte unterbringen können.
Stammen Romanfiguren immer aus dem richtigen Leben? Natürlich nicht, wenigstens nicht als Eins-zu-eins-Entsprechung – und das lassen Sie besser auch, wenn Sie nicht vor Gericht gezerrt oder eines schönen Morgens auf dem Weg zum Briefkasten erschossen werden wollen. In vielen Fällen, so wie im Schlüsselroman Das Tal der Puppen , sind die Figuren nur leicht verfremdete Menschen aus dem wirklichen Leben. Aber solche Bücher sind, hat der Leser erst einmal das unvermeidliche Ratespiel entschlüsselt, in der Regel unbefriedigend. Sie sind randvoll mit Abziehbildern berühmter Menschen, die sich gegenseitig bumsen und danach im Kopf des Lesers schnell verblassen. Ich habe Das Tal der Puppen kurz nach seinem Erscheinen gelesen (in dem Sommer war ich Küchenjunge in einer Ferienanlage im Westen von Maine), verschlang es genauso gierig wie alle anderen, die es kauften. Glaube ich wenigstens, denn ich kann mich nicht mehr erinnern, um was es darin ging. Dann ist mir doch der Stuss lieber, der einmal wöchentlich im National Enquirer serviert wird, da bekomme ich außer dem Skandal auch noch Rezepte und Fotos von Käsekuchen.
Bei mir hängt das Schicksal der Figuren während des Schreibens allein davon ab, was ich im Verlauf der Geschichte über sie entdecke – anders ausgedrückt: wie sie sich entwickeln. Manchmal entwickeln sie sich nur wenig. Doch wenn die Charaktere sich stark weiter entwickeln, beeinflussen sie zunehmend den Verlauf der Handlung, anstatt von ihr beeinflusst zu werden. Fast immer beginne ich mit einer bestimmten Situation. Das muss ja nicht für jeden richtig sein, nur habe ich immer so gearbeitet. Wenn ein Buch jedoch endet, wie es angefangen hat, werte ich das als Versagen meinerseits, egal wie interessant ich oder andere es finden. Ich glaube, die besten Stoffe handeln am Ende immer mehr von den Figuren als von dem Geschehen, das heißt, die Figuren sind die treibende Kraft. Sobald die Länge einer Kurzgeschichte überschritten ist (sagen wir mal, zwischen 2000 und 4000 Wörtern), halte ich jedoch nicht mehr viel von der sogenannten »Charakterstudie«. Meiner Meinung nach sollte immer die Geschichte der Boss bleiben. He, wenn Sie eine Charakterstudie wollen, dann kaufen Sie sich eine Biografie oder ein Abo für die Aufführungen Ihres ortsansässigen Collegetheaters. Da gibt es Charakterstudien bis zum Umfallen.
Man darf nie aus den Augen verlieren, dass es im wahren Leben keine Stereotypen wie »der Böse«, »der beste
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