Das lebendige Theorem (German Edition)
Musiker?
– Nein!
– Künstler?
– Mathematiker!
– Was, Mathematiker?
– Ja, ja … so was gibt es!
– Worüber arbeiten Sie?
– Hmmm, wollen Sie das wirklich wissen?
– Ja, warum nicht?
– Nun gut, dann also im Ernst!
Atem holen.
– Ich habe im Kontext von lokalkompakten und vollständigen metrischen Räumen einen synthetischen Begriff der von unten beschränkten Ricci-Krümmung entwickelt.
– Was!!
– Machen Sie Witze?
– Keineswegs. Das ist ein Aufsatz, der in der Fachwelt ziemlichen Widerhall gefunden hat.
– Können Sie das wiederholen? Das ist zu gut!
– Also, ich habe eine synthetische Theorie für untere Schranken an die Ricci-Krümmung im Kontext von lokalkompakten und vollständigen metrischen Räumen entwickelt.
– Uah!
– Und wozu ist das gut?
Das Eis ist gebrochen, los geht’s. Ich erkläre ausführlich, ich spreche, ich entmystifiziere. Einsteins Relativitätstheorie und die Krümmung, die die Lichtstrahlen ablenkt. Die Krümmung, Eckpfeiler der nichteuklidischen Geometrie. Positive Krümmung, die Strahlen nähern sich einander; negative Krümmung, die Strahlen gehen auseinander. Die Krümmung, die sich durch die Begriffe der Optik erklären lässt, lässt sich auch durch die Begriffe der statistischen Physik ausdrücken: Dichte, Entropie, Unordnung, kinetische Energie, Minimalenergie … das ist die Entdeckung, die ich mit einigen Mitarbeitern gemacht habe. Wie soll man in einem Raum, der wie ein Igel sticht, von einer Krümmung sprechen? Das Problem des optimalen Transports, dem man im Ingenieurswesen, in der Meteorologie, in der Informatik, in der Geometrie begegnet. Mein tausendseitiges Buch. Ich spreche, spreche in dem Maße, wie die Kilometer dahinziehen.
– Wir sind da, wir haben Lyon erreicht. Wo soll ich Sie absetzen?
– Ich wohne im ersten – im Intellektuellenviertel! Aber lassen Sie mich raus, wo es Ihnen recht ist, ich komme schon klar.
– Keine Sorge, wir bringen Sie nach Hause, Sie zeigen mir den Weg.
– Das ist super. Was schulde ich Ihnen, kann ich mich an der Mautgebühr beteiligen?
– Nein, nein, nicht nötig.
– Danke, Sie sind sehr nett.
– Bevor Sie gehen, können Sie mir eine mathematische Formel aufschreiben?
*
Zwei Abbildungen aus Optimal transport, old and new, C. Villani, Springer-Verlag, 2008.
Abb. 7.1 – Die Bedeutung von Krümmungskoeffizienten: Aufgrund der positiven Krümmungseffekte überschätzt der Beobachter die Oberfläche der Lichtquelle; in einer negativ gekrümmten Welt wäre das Gegenteil der Fall.
Abb. 7.2 – Das Experiment mit dem faulen Gas: Um vom Zustand 0 zu Zustand 1 überzugehen, beschreibt das faule Gas einen Pfad der kleinsten Wirkung. In einer nichtnegativ gekrümmten Welt gehen die Teilchenbahnen zuerst auseinander und dann wieder zusammen, so dass sich das Gas zu dazwischenliegenden Zeitpunkten eine niedrigere Dichte (höhere Entropie) leisten kann.
Kapitel 8
In einem Dorf in der Drôme, 25. Dezember 2008
Über die Feiertage mit der Familie zusammen. Ich bin gut vorangekommen.
Vier Dateien, die jeweils zugleich mit unseren Fortschritten aktualisiert wurden, enthalten alles, was wir von der Landau-Dämpfung verstanden haben. Vier Dateien, die wir gegenseitig ausgetauscht, ergänzt, korrigiert, überarbeitet und mit Anmerkungen versehen haben – NdCM für die Kommentare von Clément, NdCV für die Bemerkungen von Cédric. Sie sind in der TEX-Sprache von Knuth geschrieben, unser aller Meister, und eignen sich wunderbar für unsere Annäherungsmanöver.
Vor einiger Zeit haben wir uns in Lyon wiedergesehen, und Clément hat gegen eine Ungleichung gewettert, die ich in einer der Dateien aufgeschrieben hatte:
Er hat geschworen, dass er wirklich nicht verstünde, wie ich so etwas sagen könnte, und ich habe zugeben müssen, dass meine Worte schneller waren als mein Denken. Ich hatte den Eindruck, dass diese Ungleichung selbstverständlich gewesen sei, aber als ich darüber nachdachte, wusste ich nicht mehr, weshalb ich sie aufgeschrieben hatte. Ich verstand nicht mehr, warum sie mir evident erschienen war.
Jetzt weiß ich zwar immer noch nicht, warum ich an diese Ungleichung geglaubt hatte, aber ich habe verstanden, warum sie wahr ist! Nämlich dank der Formel von Faà di Bruno.
Vor sechzehn Jahren hatte unser Professor für Differentialgeometrie an der Pariser École Normale Supérieure diese Formel vorgelegt, die die sukzessiven Ableitungen
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