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Das lebendige Theorem (German Edition)

Das lebendige Theorem (German Edition)

Titel: Das lebendige Theorem (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cédric Villani
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faszinierend!
    Leider hat man bei der Steuerung eines Flugzeugs selten mehr als 5’ für solche Überlegungen.
    Viele Grüße

    (Auszug aus einer E-Mail, die ich am 9. September 2010 von einem Unbekannten erhalten habe.)

Kapitel 42
    Église de Saint-Louis-en-l’Île, 8. Juni 2010
    Ich stoße ein ganz klein wenig zu abrupt das Weihrauchgefäß zurück, das man mir hinhält. Schwarzer Anzug, breite schwarze Krawatte um den Hals als Zeichen der Trauer, grüne Spinne am Revers als Zeichen der Hoffnung, unter dem gigantischen Gewölbe trete ich an den Sarg heran, berühre ihn und verbeuge mich respektvoll. Im Abstand von einigen Zentimetern ruht die sterbliche Hülle Paul Malliavins, des Schutzpatrons der Wahrscheinlichkeitsrechnung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Erfinder der berühmten »Malliavin-Rechnung« hat er mehr als irgendjemand zur Annäherung zwischen Wahrscheinlichkeitsrechnung, Geometrie und Analysis beigetragen, eine Annäherung, in deren Tradition auch ich durch meine Arbeiten über den optimalen Transport stehe. Wie ich mir bei dieser Gelegenheit gerne wieder in Erinnerung rufe: »In Malliavin steckt Villani«.
    Malliavin war eine komplexe und faszinierende Persönlichkeit, konservativ und Bilderstürmer zugleich, mit einem Ausnahmegehirn gesegnet. Er hat mich vom Beginn meiner Laufbahn an begleitet, mich ermutigt und mir den Steigbügel gehalten. Er hat mir auch wichtige Aufgaben im Herausgeberkomitee seines Lieblingskindes anvertraut, dem Journal of Functional Analysis , das er mit zwei amerikanischen Forschern 1966 gegründet hat.
    Trotz unseres Altersunterschieds von 52 Jahren sind wir Freunde geworden. Sein mathematischer Geschmack lag nahe bei meinem eigenen, und es gab zweifelsohne eine gegenseitige Bewunderung. Wir sind zwar niemals über die Formel »Lieber Freund« hinausgegangen, aber das war nicht nur eine Höflichkeitsfloskel, die Formel war aufrichtig.
    Eines Tages nahmen wir beide an einer Tagung in Tunesien teil – Malliavin war schon 78 Jahre alt, aber er war noch so aktiv! Als es darum ging, die Schlussfolgerungen zu ziehen, waltete ich meines Amtes als Moderator und sprach kurz über seine phänomenale Wirkung; ich weiß nicht mehr, ob ich ihn als lebende Legende bezeichnet habe, aber das war die Idee. Malliavin erschien angesichts dieser öffentlichen Zurschaustellung etwas aus der Fassung gebracht, und später hat er mir sehr freundlich und mit trockenem Humor gesagt: »Wissen Sie, die Legende ist schon etwas abgeschlafft.«
    Aber was er auch immer gesagt hat, Paul Malliavin ist gestorben, ohne nachzulassen, und »hat bis zur letzten Minute Mathematik getrieben«, wie sein Schwiegersohn verkündete. Er starb am selben Tag wie Wladimir Arnold, ein anderer mathematischer Riese des 20. Jahrhunderts, der einen völlig anderen Stil vertrat.

    Wir müssen ohne ihn weitermachen. Sie können sich auf mich verlassen, lieber Freund, das Journal of Functional Analysis ist in guten Händen.
    Und … ich wäre so stolz gewesen, Ihnen von diesem geheimen Telefonanruf zu erzählen, den ich im Februar erhielt. Ich weiß, dass Sie entzückt gewesen wären.
    Kaum ist die Zeremonie beendet, muss ich auch schon im Laufschritt zum Institut Henri Poincaré zurückeilen, wo heute der Abschluss der großen Tagung stattfindet, die wir zusammen mit dem Clay Mathematics Institute veranstalten, um die Lösung der Poincaré’schen Vermutung durch Grigori Perelman zu feiern. Ich muss am Ende des letzten Vortrags anwesend sein, um einige Schlussworte zu sagen; um jedes Risiko einer Verspätung zu vermeiden, muss ich die Beine in die Hand nehmen und durch die Straßen von Paris laufen, von der Île Saint-Louis bis zum Zentrum des fünften Arrondissements. Wenn »Monsieur Paul« mich sähe, mit meinem roten Gesicht, schweißdurchnässt in meinem Anzug und schnaufend wie eine Lokomotive, würde er wohl schmunzeln. Es ist zu dumm, ich frage mich, ob ich mich vor dem Sarg auch richtig verbeugt habe. Jedenfalls war es aufrichtig, und das zählt.

Grigori Perelman
    Um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert entwickelte Henri Poincaré ein ganz neues Gebiet der Mathematik, die Differentialtopologie, deren Ziel es ist, die Formen zu klassifizieren, die uns umgeben, und zwar bis auf Verformungen.
    Wenn man einen Donut verformt, schaffte man es zu einer Tasse, aber nie zu einer Kugel zu gelangen: Die Tasse hat ein Loch (einen Henkel), die Kugel hat keinen. Um Oberflächen (die Formen, auf denen sich ein Punkt

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