Das lebendige Theorem (German Edition)
innerhalb eines kleinen Gebiets durch zwei Koordinaten bestimmen lässt, wie z.B. Längen- und Breitengrad) im Allgemeinen zu verstehen, genügt es, die Anzahl der Henkel zu zählen.
Aber wir leben in einer Welt dreier Raumdimensionen. Genügt es für die Klassifikation solcher Gegenstände, die Anzahl von Löchern zu zählen? Das ist die Frage, die Poincaré 1904 am Ende einer eindrucksvollen Reihe von sechs Aufsätzen stellte, wo er in einer gewissen Unordnung und mit unbestreitbarem Genie die Fundamente der gerade entstehenden Topologie legte. Poincaré stellte sich also die Frage, ob alle Formen der Dimension 3, die beschränkt sind (sagen wir, endliche Universen) und kein Loch haben, äquivalent sind. Eine dieser Formen bot sich von selbst an, nämlich die 3-Kugel, die Kugel mit drei Koordinaten in einem Raum der Dimension 4. Technisch gesprochen lautet die Poincaré’sche Vermutung folgendermaßen: Eine glatte Mannigfaltigkeit der Dimension 3, die kompakt, ohne Rand und einfach zusammenhängend ist, ist diffeomorph zur 3-Kugel.
Ist diese plausible Aussage wahr? Poincaré stellte die Frage und schloss mit folgenden bewunderungswürdigen Worten, die fast der berühmten »Randbemerkung« Fermats gleichkommt: »Aber diese Frage würde uns zu weit abführen.«
Die Zeit verging und verging …
Die Poincaré’sche Vermutung wurde zum berühmtesten Rätsel der gesamten Geometrie und versorgte das ganze 20. Jahrhundert mit Blut: Sie war Quelle von nicht weniger als drei Fields-Medaillen für Teil-Fortschritte bei dieser Frage.
Ein entscheidender Schritt wurde vollzogen, als William Thurston sich einschaltete. Als visionärer Geometer hatte Thurston eine außergewöhnliche intuitive Vorstellung von der Gesamtheit aller Formen der Dimension 3 – allen möglichen Universen. Er schlug eine Art von zoologischer, taxonomischer Klassifikation dieser Formen der Dimension 3 vor, und diese Klassifikation war so wunderschön, dass sogar die Skeptiker sich anschlossen. Diejenigen, die noch an Poincaré zweifelten, verneigten sich vor einer Vision, die so schön war, dass sie wahr sein musste. Das war das Thurston-Programm, das die Poincaré’sche Vermutung miteinbezog und von dem Thurston selbst nur einen Teil erforschen konnte.
Im Jahr 2000 wählte das Clay Mathematics Institute natürlich die Poincaré’sche Vermutung als eines von sieben Problemen, auf welche jeweils eine Million Dollar ausgesetzt wurden. Damals meinte man, dass das berühmte Problem wahrscheinlich noch ein Jahrhundert lang ungelöst bleiben würde!
Aber 2002 verblüffte der russische Mathematiker Grigori Perelman die Gemeinschaft, als er eine Lösung dieser Vermutung verkündete, über die er im Geheimen sieben Jahre lang gearbeitet hatte!!
1966 in Leningrad – alias Sankt Petersburg – geboren, hatte Perelman den mathematischen Virus von seiner Mutter, einer begabten Wissenschaftlerin von der außerordentlichen russischen Schule in der Mathematik, die von Andrei Kolmogorow geleitet wurde, empfangen, und vom Klub der Mathematik, wo passionierte Lehrkräfte ihn auf die internationalen Olympiaden vorbereitet hatten. Anschließend hatte er unter der Leitung einiger der besten Geometer des Jahrhunderts studiert: Alexandrow, Burago, Gromow; in wenigen Jahren wurde er zum führenden Kopf der Forschung in der Theorie singulärer Räume mit positiver Krümmung. Sein Beweis der »Seelenvermutung« hatte ihm große Anerkennung eingebracht, er schien am Beginn einer glänzenden Karriere zu stehen … und dann war er verschwunden!
Seit 1995 gab Perelman kein Lebenszeichen mehr von sich. Aber weit entfernt davon, aufzuhören, hatte er von Richard Hamilton die Theorie des Ricci-Flusses aufgenommen, ein Rezept, das eine kontinuierliche Verformung geometrischer Gegenstände ermöglicht, indem man ihre Krümmung verteilt, ebenso wie die Wärmegleichung die Temperatur verteilt. Hamilton besaß zwar den Ehrgeiz, seine Gleichung zum Beweis der Poincaré’schen Vermutung zu nutzen, aber seit vielen Jahren stieß er auf beträchtliche technische Probleme. Dieser Weg schien zum Scheitern verurteilt zu sein.
Bis zu jener berühmten E-Mail von 2002, die Perelman an einige amerikanische Kollegen schickte. Eine Nachricht von wenigen Zeilen, die ein Manuskript ankündigten, das er gerade im Internet veröffentlicht hatte und in dem er seiner eigenen Formulierung zufolge einen »eklektischen Beweisentwurf« der Poincaré’schen Vermutung und tatsächlich auch eines
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