Das leere Grab
Richtung Südosten startete. Er flog der Sonne entgegen, überquerte einige Zeitzonen und so war es kurz nach Mitternacht, als er Klein-Venedig erreichte. Das bedeutete Venezuela übersetzt. Die ersten spanischen Einwanderer hatten das Land so genannt, weil die Ureinwohner ihre Hütten auf Holzpfählen im Wasser gebaut hatten.
Von der Hauptstadt Caracas aus rief Justus zu Hause an. Die folgenden Stunden trieb er sich auf dem Flughafengelände herum, denn am nächsten Vormittag sollte ein Flug nach Canaima gehen. Es ärgerte ihn, dass er sich Caracas nicht ansehen konnte, wenn er schon da war. Doch seine Müdigkeit war zu groß und so zog er es vor, sich auszuruhen, bevor er noch weiter nach Süden flog. Der Flug war erstaunlich billig. Für die immerhin sechshundert Kilometer bis Canaima hatte er umgerechnet nur dreiundvierzig Dollar bezahlt. Das beruhigte Justus, der sich anfangs Sorgen um seine Reisekasse gemacht hatte.
Nun saß er in einer kleinen Passagiermaschine und flog durch ein dichtes Wolkenfeld. Er hatte seit dreißig Stunden nicht mehr geschlafen. Alles, was er jetzt noch wollte, war ein Bett. Doch dann geschah etwas, was ihn plötzlich hellwach werden ließ. Die Wolkendecke riss auf und unter ihm breitete sich eine atemberaubende Landschaft aus: dunkelgrün bewachsene Berge, so weit das Auge reichte. Endlose Hügelketten zogen sich wie die Wellen eines erstarrten Meeres bis zum Horizont. Tiefe Schluchten verbargen schmale Flussläufe in ihren Schatten. Alles war mit saftigem Grün bewachsen, von dem der gerade erst gefallene Regen als Dampf wieder aufstieg. Die Sonne und die Wolkenfelder warfen einen gescheckten Lichtteppich auf die Landschaft, der langsam über die Berge glitt. Plötzlich schob sich ein Plateau in Justus’ Blickfeld, das nur wenige Meter unter ihm zu liegen schien. Er zuckte erschrocken zurück. Wie konnte das Flugzeug so plötzlich an Höhe verloren haben? Dann begriff er, dass sie über einen Tafelberg flogen. Einige Augenblicke später stürzte die Landschaft in ihre ursprüngliche Tiefe zurück.
Justus genoss den Anblick. Das war also der tropische Regenwald. Fotos oder Bilder aus dem Fernsehen waren mit der Realität nicht zu vergleichen. Nach einer Weile ging die Maschine in den Landeanflug über, in der Ferne entdeckte Justus eine Ansammlung von Häusern. Über Lautsprecher kam eine Durchsage. Justus’ Spanischkenntnisse waren nicht überragend, doch sie reichten aus, um zu verstehen, dass die Passagiere nach rechts sehen sollten. Am Horizont erhob sich ein weiterer Tafelberg und durch einen glücklichen Zufall war die Sicht in diese Richtung gerade so klar, dass Justus einen Blick auf den Salto Angel erhaschen konnte: den höchsten Wasserfall der Erde. Ein schmales, glitzerndes Band stürzte dort fast tausend Meter in die Tiefe. Die Sonne malte einen Regenbogen in das sprühende Wasser. Doch schon nach wenigen Momenten war das Flugzeug so tief gesunken, dass die umliegenden Hügel den Blick auf den Wasserfall versperrten. Justus blickte wieder nach unten auf Canaima. Ein breiter roter Streifen führte aus der Stadt heraus. Justus hielt ihn für eine Straße, doch er endete ganz plötzlich im undurchdringlichen Grün des Urwalds. Als das Flugzeug eine Schleife drehte und der Streifen schließlich direkt vor ihnen lag, wurde Justus klar, dass das die Landebahn war. Es gab keine Asphaltierung und keine Beleuchtung. In Kalifornien hätte es so etwas nie gegeben, doch hier schien es zu funktionieren. Justus zuckte die Schultern. Warum auch nicht?
Die Landung war etwas holprig, doch Justus hatte sie sich schlimmer vorgestellt. Nachdem er sein Gepäck entgegengenommen hatte, verließ er den winzigen Flugplatz und betrat Canaima. An einer holprigen Schotterstraße standen viele Geländewagen mit dazugehörigem Fahrer. Justus machte einem der Fahrer in gebrochenem Spanisch klar, dass er keine Dschungeltouren buchen und auch nicht in das schöne Hotel mit dem Swimmingpool einziehen wollte, sondern lediglich eine billige Übernachtungsmöglichkeit suchte. Eine halbe Stunde später warf er seine Reisetasche in die Ecke eines sehr kleinen und spartanisch eingerichteten, aber sauberen Pensionszimmers und ging unter die Dusche. Obwohl sein Magen knurrte, verzichtete er auf ein Essen im Restaurant. Er machte sich über den Rest seines Proviants her, legte sich ins Bett und fiel fast augenblicklich in tiefen Schlaf.
»Was Justus jetzt wohl macht?« Peter sah sich ratlos in der
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