Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das leere Grab

Titel: Das leere Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Marx
Vom Netzwerk:
Vielleicht haben sie den Unfall nur vorgetäuscht, um sich abzusetzen.«
    »Das sind doch alles nur Spekulationen«, warf Lys ein.
    »Sicher. Was meinst du, womit ich die letzte Nacht verbracht habe? Ich versuchte mir die ganze Sache irgendwie logisch zu erklären. Wenn sie nicht absichtlich geflohen sind, dann waren sie vielleicht vor jemandem auf der Flucht. Oder sie wurden irgendwo gegen ihren Willen festgehalten. Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen und bin zu keiner Lösung gekommen.«
    »Du musst versuchen, logisch an die Sache heranzugehen«, sagte Lys.
    »Was meinst du, was ich tue?«, fuhr Justus sie an. Gleich darauf besann er sich: »Entschuldige. Ich bin im Moment ziemlich durcheinander.«
    Lys seufzte und legte ihre Hand auf seine. »Das nimmt dich ganz schön mit, was?«
    Justus senkte den Kopf. »Ich gebe es zwar ungern zu, aber es stimmt. Das Schlimmste an der Sache ist, dass ich mit Logik diesmal nicht weiterkomme. Ich drehe mich im Kreis. Mein logisches Denken ist völlig ausgeschaltet.«
    »Und das ist deine schwächste Stelle.« Lys nickte. »Es ist schlimm, wenn plötzlich alle Werte und Vorstellungen infrage gestellt werden.«
    »Genau das ist der Punkt. Gestern war noch alles in Ordnung und heute ist alles anders. Durch die simple Frage, ob meine Eltern vielleicht noch leben könnten, hat sich mein ganzes Leben verändert. Dinge, die vorher selbstverständlich waren, sind es jetzt nicht mehr. Ich frage mich ständig, wie meinLeben verlaufen wäre, wenn meine Eltern nicht gestorben wären. Ich wäre nicht bei Tante Mathilda und Onkel Titus aufgewachsen. Wer weiß, wie sehr mich das verändert hätte. Das Leben bei den beiden hat mich so sehr geprägt, dass ich gar nicht weiß, wer oder was ich ohne sie wäre. Das ist eine ziemlich bittere Erkenntnis: Ich bin mir meiner selbst nicht mehr sicher, weil ich nicht weiß, wie viel in meinem Leben wirklich von mir kam und wie viel von außen beeinflusst wurde. Was für ein Mensch wäre ich heute, wenn meine Eltern noch leben würden? Mir macht diese Frage Angst. Denn sie zeigt mir, wie sehr alles vom Zufall beeinflusst wird. Weil ein Techniker bei der Fluggesellschaft einen schlechten Tag hatte, unterlief ihm ein Fehler. Deswegen gab es eine Katastrophe auf dem Flug nach Südamerika. Das Flugzeug stürzte ab. Viele Menschen kamen ums Leben. Und plötzlich stand der fünfjährige Justus Jonas alleine da und wurde von seinem Onkel und seiner Tante aufgenommen. Wegen des Fehlers eines einzigen Menschen bei der Fluggesellschaft nahm mein Leben einen völlig anderen Weg.«
    »Das ist Schicksal«, sagte Lys.
    »Oder Zufall.«
    »Ist das ein Unterschied?«
    »Natürlich. Mit einem Zufall könnte ich mich abfinden. Aber wenn jetzt, elf Jahre später, Namen und Fotos auftauchen, die vermuten lassen, dass meine Eltern noch leben, kann es kein Zufall mehr sein. Venezuela ist weit weg. Trotzdem erfahre ich über Umwege von der Existenz eines Ehepaares mit dem Namen Jonas. Das sieht verdammt nach Schicksal aus, auch wenn ich es lieber leugnen würde. Und das macht mir Angst.«
    »Warum Angst?«
    »Weil ich mir so ausgeliefert vorkomme. Ich habe die Dinge nicht mehr unter Kontrolle. Mein Leben lang habe ich an der Logik festgehalten, doch die wird plötzlich infrage gestellt. Das Schicksal kommt vollkommen unerwartet auf mich zu und ich habe keine Chance auszuweichen. Wenn das alles vorherbestimmt ist, welche Überraschungen hält die Zukunft noch für mich bereit?«
    »Ich glaube nicht, dass alles vorherbestimmt ist. Immerhin kannst du jetzt frei entscheiden, was du tun wirst«, meinte Lys.
    »Frei entscheiden?« Justus lachte bitter auf. »Du machst Witze. Ich kann nicht frei entscheiden. Mir bleibt nur eine Wahl.«
    »Und die wäre?«
    »Ich muss nach Venezuela.«
    »Wann?«
    »So bald wie möglich.«
    »Warum?«
    Justus sah sie ernst an. »Die beiden sind nur Touristen. In ein paar Tagen sind sie vielleicht schon abgereist. Mr Hitfield hat ihren Wohnort in den Vereinigten Staaten nicht herausbekommen können. Wenn ich also mehr erfahren will, muss ich so schnell wie möglich los, um die beiden nicht zu verpassen.«
    Lys seufzte. »Justus, du solltest dir das noch einmal ganz genau überlegen.Jetzt eine Entscheidung zu treffen wäre…«
    »Genau richtig«, fiel Justus ihr ins Wort. »Ich weiß, was du mir sagen willst, Lys. Der ganze Vorfall liegt noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden zurück und ich sollte mir alles gründlich durch den Kopf gehen lassen.

Weitere Kostenlose Bücher