Das leere Grab
duschte.
»Guten Morgen!«, flötete Tante Mathilda, als Justus die Küche betrat.
»Morgen.«
»Schlecht geschlafen?«
»Hm.« Justus hatte keine Lust zu antworten. Er mochte seine Tante wirklich gern, doch ihre morgendliche Munterkeit war manchmal etwas anstrengend. Sie merkte das meist und fragte nicht weiter. Justus unterbot sein Frühstücksminimum und verließ bereits nach einem halben Brötchen das Haus. Er holte sein Fahrrad und machte sich auf den Weg zur Schule.
Nach einigen hundert Metern folgte er einem plötzlichen Impuls und bog nach links in Richtung Santa Monica ab. Mitschüler kamen ihm auf dem Fahrrad entgegen, doch das störte ihn nicht. Unbeirrt fuhr er weiter Richtung Küste, bis er das schmiedeeiserne Tor zum Friedhof von Rocky Beach erreichte. Er stellte das Rad ab und betrat das Friedhofsgelände. Um diese Tageszeit war kein Mensch hier. Die Luft war kühl und Tau glänzte auf den großen Rasenflächen. Doch die noch knapp über dem Horizont stehende Sonne versprach einen weiteren warmen Tag.
Justus schlenderte über die kiesbestreuten Wege und ließ seinen Blick über die vielen Grabsteine wandern. Er war selten hier. Nur einmal im Jahr am Todestag seiner Eltern kam er zusammen mit Onkel Titus und Tante Mathilda hierher. Er hatte auch nie verstanden, warum Menschen ihre verstorbenen Verwandten oder Freunde auf dem Friedhof besuchten. Wenn er an seine Eltern denken wollte, musste er nicht extra auf den Friedhof gehen.
Heute war es anders.
Er erreichte den Grabstein, auf dem die Namen seiner Eltern standen. Davor waren einige Blumen gepflanzt. Tante Mathilda pflegte sie regelmäßig. Justus betrachtete sie: rote Blumen. Grauer Stein. Zwei Namen. Das war alles. Warum war er hier?
Das Grab war leer. Man hatte die Körper der meisten Flugpassagiere nach dem Absturz nicht gefunden. Trotzdem hatte es eine symbolische Beerdigung gegeben. Unter Justus’ Füßen befand sich nichts als Erde. Dies war ein Grab ohne Tote und vielleicht sogar ein Grab, das es gar nicht geben durfte.
Hinter ihm näherten sich Schritte auf dem Kiesweg. Justus beachtete sie nicht weiter, doch dann sprach ihn jemand an. »Justus? Was tust du denn hier?«
Er drehte sich um. »Lys! Dasselbe könnte ich dich fragen.«
»Ich war gerade auf dem Weg zum College und sah dich von der Straße aus hier auf dem Friedhofsgelände.« Das blonde Mädchen wies zum Gitter, das den Friedhof von der Straße trennte. Es war nicht weit entfernt und ihr Wagen war auf der anderen Seite zu sehen. »Da habe ich angehalten. Musst du nicht zur Schule?«
»Musst du nicht ins College?«, gab Justus ein wenig zu scharf zurück.
»Nein«, antwortete Lys etwas verwirrt. »Jedenfalls nicht, wenn du mir etwas erzählen möchtest.«
»Es gibt nichts zu erzählen.«
Lys blickte ihn vorwurfsvoll an. »Du meinst also, es ist ganz normal, die Schule zu schwänzen und sich auf dem Friedhof herumzutreiben.«
»Nein«, gab Justus zu. »Entschuldige. Hast du Zeit?«
Lys zuckte die Schultern. »Wenn es wichtig ist, ja. Ich kann die erste Vorlesung ausfallen lassen.«
»Gut. Dann komm mit. Wir setzen uns auf die Bank. Und dann erzähle ich dir, was mir gestern passiert ist.« Justus berichtete ihr von Mr Hitfields Anruf am Vortag und seinem Besuch inMalibu.
Lys traute ihren Ohren nicht. »Aber wie ist denn das möglich?«
»Das wüsste ich selbst gern.«
»Deine Eltern sind vor elf Jahren gestorben. Wenn sie überlebt hätten, wären sie doch nicht einfach so verschwunden!«
Justus spielte nervös mit dem Saum seines T-Shirts. »Da hast du sicher recht. Aber glaubst du an einen Zufall? Der Name Jonas ist selten. In Kombination mit den Vornamen Catherine und Julius noch seltener. Und dass eine Catherine und ein Julius miteinander verheiratet sind, kommt in ganz Amerika vielleicht ein Dutzend Mal vor. Die beiden kommen aus der Nähe von Los Angeles. Und du darfst ihre merkwürdige Reaktion auf Hitfields Frage nach Verwandten nicht vergessen.«
Lys nickte ungeduldig. »Na schön. Aber wie erklärst du dir das?«
»Ich weiß es nicht.«
»Könnte es nicht doch ein unglücklicher Zufall sein?«
Justus sah sie Hilfe suchend an. »Glaub mir, Lys, niemandem wäre das lieber als mir.«
»Was meinst du damit?«
»Wenn es kein Zufall ist und die beiden sind wirklich meine Eltern, stehe ich vor hundert Fragen, die ich mir nicht beantworten kann: Warum sind sie nach dem Absturz spurlos verschwunden? Wollten sie mich und den Rest ihrer Familie loswerden?
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