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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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ununterbrochen weiter, von Kreuzen mit drei Querbalken und nach so langer Zeit noch immer schmerzenden, vernarbten Einschusslöchern.
    Es brabbelte vor sich hin in einer Mundart, die mich verwirrte, es war nicht jene dieser Gegend, aber auch keine wirklich fremde. Hörte sich an wie eine erfundene Mundart, doch wozu erfindet jemand eine Mundart? Anna Seghers fiel mir ein und Der letzte Weg des Koloman Wallisch, ihr Bericht von ihrer Fahrt zu den Schauplätzen des Februarbürgerkriegs in der Obersteiermark. Da hatte mich beim ersten Lesen auch etwas verwirrt, das ich nicht gleich einordnen konnte. Bis mir auffiel, dass sie die einfachen Menschen in den Zugabteilen und Wirtshäusern der halb ländlichen, halb industrialisierten Steiermark in bayerischer Mundart sprechen ließ, und ich hatte mich gefragt, welche Absicht sie damit wohl verfolgt hatte.
    Noch mehr verwirrte mich das Aussehen meines Begleiters beim nächtlichen Spaziergang durch das verhasste Dorf. Es war eine Eiche. Nicht eine Eiche. Die Eiche. Die Eiche vom Rand des Dorfes. Wenn die Fronleichnamsprozession aus den Kindheitstagen hinauszog zum am weitesten entfernten Altar, jenem an der Feldwegkreuzung an der Grenze zur Nachbargemeinde, mitten in den Äckern der Großbauern, dann stand auf halbem Weg diese Eiche, die Tausendjährige nannten sie sie, ich weiß nicht, ob Eichen wirklich so alt werden. Die Eiche neben mir war eindeutig diese Eiche, aber sie war nicht größer als ich, sah aus wie die sprechenden Bäume in tschechischen Kinderfilmen.
    Sie sprach in schlampig gereimten Vierzeilern wie einer von diesen Alleinunterhalter-Dorfchronisten, die es in den reinen Bauerndörfern noch gegeben hatte, als ich Kind gewesen war. Gstanzeln. Manchmal aber verließ ihr Geflüstere und Geschnarre die Metrik der älplerischen Reimkunst und folgte jener von Stanzen, vorgebracht in bäuerlichem Sprechgesang, allerdings nicht in der strengen Form Ariosts, sie reimte freier, wie Wieland, und manchmal schwang sie sich empor zu einer Spenserstanze in der Art Byrons.
    Du bist bloß eine Kommentarstimme in meinem Hirn, blöde tausend Jahre alte Eiche, sagte ich mir, und: Geh weg. Nichts in diesem Land währt tausend Jahre. Mein Hirn hat so große Angst vor dem Dorf, dass es sich einen Begleiter ausdenkt, und weil ich ein stets alles kommentierender Schreibender bin, stellt mir mein Hirn einen Kommentator zur Seite, der sich lustig macht über die Geschehnisse der mittleren und jüngsten Vergangenheit. So wie sich die Großbauern ihre Kommentatoren gehalten hatten wie Hofnarren, ständig angetrunkene alte Bänkelsänger, meist leicht verrückte Männer aus der zweiten oder dritten Reihe der bäuerlichen Dorfhierarchie, die bei den Kirtagen und Tanzfesten und kollektiven Besäufnissen aus kirchlichen Anlässen die aktuellen Affären und Geschehnisse des Dorfes in einfachen Reimen auf die Schaufel genommen hatten.
    Jetzt warst so lang in Amerika, aber das hättst dir nicht denkt, dass dich nach so einer Flucht das Dorf noch derglenkt, brummelte die Eiche in ihrem eintönigen Singsang, ließ sich wieder einen Schritt hinter mich zurückfallen und redete ununterbrochen weiter, ich verstand nur noch Fetzen, irgendwas von toten Russen und leeren Gräbern, ich will diese Geschichte nicht hören. Etwas schlug gegen Glas. Ich wurde wach. Weil es eine so warme Herbstnacht war, hatte ich das Fenster des Pensionszimmers gekippt. Die Plastikkügelchen am Ende der Schnur für die Rollos klapperten im Wind und klopften gegen die Fensterscheibe. Ich schloss das Fenster, konnte dann lange nicht einschlafen, drehte schließlich den Fernseher an und ließ ihn ohne Ton laufen bis zum Morgen.

10
    Die Unlust an der Severinus-Arbeit setzte ein, kaum dass ich damit begonnen hatte. Ich brauche das Geld, sagte ich mir, wenn ich mich wehrte gegen die Fahrten an die Handlungsorte der Vita und mich wehrte gegen das Suchen nach verwertbaren Passagen in der Sekundärliteratur. An den Pensionszimmerabenden lag ich im Bett, sah fern und löste gleichzeitig die Sudokus in den alten Tageszeitungen aus dem Frühstückszimmer, statt mit dem Bleistift in der Hand Lotter zu lesen oder Zinnhobler. Genau genommen wehrte ich mich dagegen, in diesem Land zu sein, wollte zurück an die Großen Seen, wünschte, mein Heiligenleben-Beschreibungsauftrag hätte nicht diesem gestrengen bloßfüßigen Apostel der Germanenwälder Ufernoricums gegolten, sondern der Lilie von den Bänken des Mohawk-Flusses, Kateri

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