Das leere Land
über eine vermeintliche Tatsächlichkeit zu berichten, von der nichts, absolut nichts überliefert ist. Dörfler und Giese entwerfen sich einen Severinus einfach nach ihrem Geschmack. Oder nach den Notwendigkeiten ihrer Romankonzepte.
Beide erfinden sie eine üppige Vorgeschichte für den Heiligen Mann. Reine Fantasiegebilde. In der einzigen verbürgten Quelle, in der Vita des Eugipp also, taucht Severinus aus dem Nichts auf. Obwohl ich glaube, dass es eine vorgetäuschte, zur Erhöhung sowohl des eigenen als auch Severinus’ Ruhm erfundene Bescheidenheit ist, die den Chronisten in der Vorrede sagen lässt, dass zur Herkunft des Heiligen nichts zu erfahren gewesen sei. Weil er ein paar Absätze später gleich mit kaum verschleierter Eindeutigkeit sagt, dass Severinus von höchster Herkunft gewesen sei, ein ganz und gar lateinischer Mensch, der aus glühender Sehnsucht nach einem vollkommeneren Leben in die Wüsten des Ostens gegangen sei, dann aber, göttlicher Offenbarung folgend, die Städte Noricums, die von häufigen Barbareneinfällen bedrängt wurden, zu seinem Lebensort gewählt habe. Eugipp macht aus seiner Hauptperson etwas anderes, als sie war. Hagiografische Verfremdung nennt das Lotter.
Giese erfindet dem vorhistorischen Severinus eine glänzende Laufbahn am Hofe des Hunnen Attila. Da ist Giese weniger elegant als Dörfler mit seiner üppig ausufernden Fantasiegeschichte, doch er ist um eine Spur plausibler, näher an der Vorlage. Denn beider Vorgänger, der getreue Eugippius, lässt seinen Bericht ja mit dem Halbsatz anheben: Tempore, quo Attila, rex Hunnorum, defunctus est. Zu jener Zeit, als Attila, König der Hunnen, starb.
Die Sprache des Eugippius im Original ist so schön, dass ich seinen Anfangssatz in einen Aufsatzentwurf hineinnahm. Der Sprecher meiner Auftraggeber redigierte ihn am Ende allerdings wieder hinaus. Ich wehrte mich nur kurz.
Kein Latein in der Festschrift! Ohne Ausnahme, das war die Abmachung!, rief er in das Telefon.
Das Latein Eugipps ist von einer Prägnanz, Klarheit und Schönheit, dass man niederknien möchte, antwortete ich.
Kein Latein!
Was ist, wenn ich gelegentlich ein Ave! oder Salve! einbaue?
Das geht. Das zählt nicht. Was vom Latein via Asterix einer breiteren Leserschaft hinlänglich bekannt ist, darf verwendet werden. Sobald Sie jedoch eine Übersetzungsfußnote einfügen müssen für die Nicht-Altphilologen: Weg damit!
Ich beugte mich ohne Zähneknirschen.
Dörflers Roman macht mich nervös. Der Pfarrer und Nebenerwerbsschriftsteller erfindet zu den im Dunkel der Geschichte liegenden Wurzeln des Severinus einen aufwendigen Plot, der dem Heiligen Mann familiäre Wurzeln in Noricum beschert. Er dichtet ihm eine Großmutter an, die sanftmütige und großherzige Amata, einst vertrieben aus Mautern, und begründet damit die stete Sehnsucht des späteren Heiligen nach dem kalten Norden. Und macht plausibel, dass der rastlose Wanderer eine greifbar nahe glänzende Laufbahn im Römischen Reich verschmäht hatte und seiner Bestimmung gefolgt war, zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Sobald sein Romanheld in Noricum ankommt und damit in die überlieferte Geschichtsschreibung eintritt, geht Dörfler allerdings die Luft aus. Sein Text wird zu einer Nacherzählung der Vorlage des Eugipp, die Sprache des Priesterdichters, die in der ersten Hälfte seines Romans die Gefilde des Mittelmeers plastisch werden lässt, wird dünn und flach und blutleer. Anders als bei Giese, der bringt Fleischeslust in die Sache, immer wieder schwirren durchscheinend zarte Mädchengestalten oder von Eros strotzende pralle Frauenspersonen um den Heiligen herum.
Mir ist die Kargheit Dörflers sympathischer als Gieses demonstrativ vorgeführte Kunstfertigkeit. Und doch macht mich Dörfler nervös. Weil er so sehr nach Blut und Boden klingt, weil er sein Romanpersonal ganz ungeniert in einen Naziraster von wertvollem und unwertem Leben hineinsetzt. Was nur schwer in Einklang zu bringen ist mit seiner Biografie, derzufolge ihn die Nazis mit Schreib- und Publikationsverbot belegt hatten. Allerdings habe ich diese Informationen von Wikipedia, und da heißt es vorsichtig sein, bekanntlich.
Kohl hätte das Problem, glaubhaft über etwas zu schreiben, von dem man nichts weiß, eleganter gelöst als Giese und Dörfler. Johann Georg Kohl, der professionelle Tourist und Reisejournalist, der den Daheimgebliebenen die Fremde schmackhaft machte in zahllosen Büchern mit hohen Auflagen, war wie ein
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