Das leere Land
Robert um Hilfe gebeten, den Sohn aus reicher Münchener Familie, der später Architekt geworden war. Seine Familie hatte Einfluss bei den Naziwirtschaftsbonzen. Kein Problem, sagte Robert, und telefonierte mit seinem Vater. Dann fragte er meinen Großvater, wie viel Kork er brauche: einen Waggon, zwei Waggons, drei? Meine Mutter schrie jedes Mal ein peinliches Lachen heraus bei dieser Geschichte und rief: Ein Waggon Korken! So viele Fässer hätte er sein Leben lang nicht machen können! So war der Robert, sagte sie dann noch. Mein Verehrer. Wie ich siebzehn war.
Dieser Feiertagsnachmittag mit Kaffee und Kuchen und billigem Wein aus dem Nah-und-Frisch-Markt war der Punkt, ab dem ich alles verstand. Davor hatte ich mich ein halbes Erwachsenenleben lang in einem Irrtum befunden. Bis dahin war es meine Gewissheit gewesen, dass ich eine Last war. Ich hatte es dem Dorf zugeschrieben, dass ich überall Abweisung sah, dass ich meinte, alle Gespräche hörten in meiner Anwesenheit auf, dass ich glaubte, mir wendeten sich nur Rücken zu, wenn ich irgendwo zugegen war. Ich wäre dem Dorf eine Last, und ich wäre den Meinen eine Last, hatte ich gemeint. Weil ich den Namen des Toten auf dem Denkmal trage.
Ich fühlte mich wie ein Verbannter, wobei die Verbannung nie ausgesprochen und dem Verbannten nicht mitgeteilt wurde. Das ganze Nazidorf musste ab dem Mai 1945 mit Ächtung zurechtkommen. Sie hatten den Krieg verloren, ohne sich als Verlierer zu fühlen. Man hatte sie nicht besiegt, man hatte sie betrogen. Und zwar um alles. Sie duckten sich weg, hielten still und einigten sich bald darauf, dass es ihnen zustehe, sich alles wiederzuholen. War es doch das Ihre gewesen.
Nur die Toten, die konnten sie sich nicht erneut aneignen, denn die waren tot. Die Macht und das Geld und das Gefühl von gottgewollter oder von der Vorsehung seit Urzeiten vorgesehener Überlegenheit, das konnten sie sich wieder nehmen, nach wenigen Jahren schon. Sie konnten sich wieder nehmen das Recht zu wählen und gewählt zu werden, und das Recht, Uniformen zu tragen und Waffen und die gängigen Insignien legitimierter Gewalt. Konnten sich wieder nehmen, was ihnen die Amerikaner und die Russen abgenommen hatten. Konnten sich wieder nehmen die Ehrbarkeit und die Anständigkeit und das Aufrechtsein und die Ehre und die Treue und die Mannhaftigkeit und die Zuständigkeit für die Entscheidung, wer zu Recht in diesem Land lebt und wer nicht.
Das alles griffen sie sich wieder als ihnen von Anbeginn zustehendes Recht. Nur die Toten blieben tot. Und ließen sich nicht wieder hereinholen, auch wenn man ihre Totwerdung zur Heldentat und zur Opferung umerzählte, die Rühmung verdiente. Sie wehrten sich, indem sie den Toten Denkmale errichteten und sie vergaßen. Darum hassten sie mich. Weil ich nach neun Jahren auf einmal auftauchte aus dem Schoß meiner Mutter mit dem Namen eines Mannes, der tot und vergessen sein sollte. Ich ging durch das Dorf wie ein Stachel in ihrem Fleisch, der sie ständig daran erinnerte, dass etwas geschehen war. Darum begannen sie, ohne sich verabredet zu haben, so zu tun, als gäbe es mich nicht. Wenn es mich nicht gab, war alles gut. Die Toten waren dort, wo sie hingehörten, auf der Granittafel an der Nordostwand der Dorfkirche. Das war der Bann. Er war stark und machtvoll. Niemand musste mich vertreiben. Ich war schon vertrieben worden und weg, noch bevor ich den ersten eigenen Schritt hatte machen können.
Das hatte ich geglaubt. Es war ein Irrtum gewesen. Denn nicht das Dorf hatte mich verbannt, weil es die Erinnerung an die Vergangenheit, zu der ich es durch meinen Namen zwang, nicht ertragen konnte. Meine Mutter hatte mich verbannt, weil ich das war, das ihr das Leben als dürftigen Ersatz geboten hatte, nachdem es ihr das, was sie wollte, genommen hatte. Darum gehe ich dem Dorf aus dem Weg. Weil ich Angst davor habe, sie zu fragen, sie würde nichts sagen, ich würde ihr möglicherweise sagen, was ich denke, und sie würde sich nicht entschuldigen, würde nicht versuchen, etwas zu erklären, sondern würde sich rechtfertigen. Das würde ich nicht ertragen, ihr zuzuhören, wie sie sich rechtfertigt.
Die Frau, die mir wichtig war, hatte mir zugehört, wir lagen nebeneinander im Bett auf dem Rücken. Sie drehte sich zu mir, als ich fertig war, sah mir ins Gesicht, sagte nichts. So ist das, sagte ich. Wenn du meinst, sagte sie.
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Erstaunlich, wie unverfroren belletristische Chronisten mit dem fundamentalen Problem umgehen,
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