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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Tegagouita, Jungfrau Huron. Weil Severinus und seine Vita Langeweiler sind, flach und eindimensional in ihrer gottgefälligen Selbstgerechtigkeit, zumindest in der Darstellung Eugipps, und eine andere haben wir nicht. Während Kateris nur vierundzwanzig Jahre dauerndes Dasein auf Erden ein poetisches war, ein hauchfein zartes Flirren zwischen der Wildheit ihrer Ahnen und der brutalen Zivilisation der weißen Eindringlinge, ein Sprung des blatternarbigen, fast blinden Kindes von dem Eingebettetsein in großartige irokesische Räume und Geschichten in das Neue, das über sie und die Ihren gekommen war, vordergründig behübscht mit Missionarsmilde als Erweckung zum wahren Glauben, wo es doch nur um europäische Eroberung ging, Verdrängung, Landnahme und Völkermord.
    Warum ich nicht hinfahre zum Dorf, warum ich Angst habe vor dem Kriegerdenkmal, hatte sie damals wissen wollen, die Frau, die mir wichtig war, warum wirklich, ihr könne ich die Wahrheit sagen. Lange sagte ich nichts. Hatte Angst, von Gefühligem überwältigt zu werden, das würde meine Position schwächen in unserer Beziehung, die recht kompliziert war. Eine Schwächung durch Gefühle wollte ich mir nicht erlauben. Dann sagte ich es doch.
    Weil ich Angst habe.
    Vor dem Dorf?
    Vor dem Namen auf dem Denkmal. Meinem Namen. Lange Pause. Um wirklich ehrlich zu sein, habe ich Angst vor dem Mann mit meinem Namen.
    Er ist tot, sagte sie.
    Er ist schuld. An allem.
    Dann sagte ich, dass er die Ursache dafür gewesen sei, dass meine Mutter nicht das Leben habe führen können, das sie habe führen wollen, was sie in der Folge unnahbar gemacht habe, kalt und nüchtern sei sie allem und allen stets begegnet.
    Sie hat einen Mann geliebt, der ein Freund ihres Bruders war, erklärte ich der Frau, die mir wichtig war. Es war die große Liebe ihres Lebens. Ihr Bruder ist gestorben im Juni 1945. Darum brach der Kontakt ab. Ihr Geliebter ist heimgekehrt nach München. Danach hat sie sich versteinert. Der Mann mit meinem Namen ist schuld daran. Genauer – nicht er ist schuld. Dass er gestorben ist, das war schuld.
    Hat sie dir das erzählt?
    Nein.
    Woher weißt du es dann?
    Sie hat sich verraten. Einmal.
    Ich weiß nicht mehr, was der Anlass für die Familienzusammenkunft war, irgendein Feiertag, Weihnachten möglicherweise, oder Allerheiligen. Man hatte Wein getrunken nach Kaffee und Kuchen, eine aufgekratzte weißweinbedingte Heiterkeit hatte sich eingestellt. Wenn mein Bruder nicht gestorben wäre in Detmold, so sinnlos, wäre ich jetzt die Frau Architektin in München!, rief sie unvermittelt in die lustige Runde. Die Onkel und Tanten und deren erwachsene Kinder hatten von den alten Zeiten geplaudert, heitere Anekdoten von früher erzählt. Sie lachte viel zu laut auf nach diesem Satz, es hätte ihr Beitrag sein sollen, ihre witzige Episode von früher. Doch es war nicht witzig. Niemand lachte.
    Wollte man das, was ich mit ihr zu tun habe und sie mit mir, als Novelle erzählen, dann wäre dieser, ihr als Witz gemeinter Vorwurf an den toten Bruder das Ereignis der unerhörten Begebenheit gewesen. Von diesem misslungenen Scherz an wurde mir klar, dass für sie alles Nachfolgende nur ein unzureichender Ersatz gewesen war. Das Dasein als Ehefrau, mein Vater, ich. Nur Ersatz.
    Die Geschichte mit Robert aus München, dem besten Freund ihres Bruders, war in der Familie bekannt, aber man hatte sie nie ernst genommen. Wenn sie davon redete, tat sie es nebenbei, brachte es als Farce aus ihrer frühesten Jugend. Das war halt so ein Verehrer, als ich ein Backfisch war, sagte sie und grinste verlegen, lenkte ab von ihrer Verlegenheit, indem sie uns ausführlich erklärte, dass das Wort Backfisch damals für junge Mädchen gebraucht worden sei.
    Ihre Lieblingsgeschichte war die von den Fasskorken. Ihr Vater, mein Großvater, war Fassbinder gewesen. Eine kleine, armselige Existenz, in einem Schuppen neben dem Wohnhaus fabrizierte er Eimer, Tröge und Fässer für die Bauern des Dorfes, man konnte nicht leben davon. Seine Kinder mussten im Herbst Weidenruten aus der Au holen und sie schälen, aus den Rindenstreifen flocht er im Winter Körbe. Dann zog er wie ein Hausierer mit einem Leiterwagen voll Flechtwerk von Hof zu Hof und tauschte seine Erzeugnisse gegen Eier, Schmalz und halbe Speckseiten.
    Im vorletzten Kriegsjahr wurde Kork knapp. Es wurde immer schwieriger für meinen Großvater, die ein oder zwei Dutzend Korken für seine Fässer aufzutreiben. Da hatte meine Mutter den

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