Das leere Land
den stummen Bildschirm. Weißt du es nicht mehr, sagte ich, du hast mir einmal etwas erklärt.
Nein, sagte sie.
Du hast gesagt, man darf sich niemals und um keinen Preis anmerken lassen, wie es einem geht, sagte ich. Wenn sie merken, dass du schwach bist, verspotten sie dich, oder bescheißen dich. Wenn du ihnen zeigst, dass es dir schlecht geht, treten sie dich noch tiefer hinunter. Wenn sie sehen, dass es dir gut geht, nutzen sie dich aus. Darum dürfen sie nie wissen, wie es dir geht, hast du mir gesagt, als ich ein Kind war.
Ja, sagte sie.
Du hast dich dein ganzes Leben lang an deinen eigenen Rat gehalten, oder?, sagte ich.
Sie schwieg.
Und jetzt hältst du dich auf einmal selbst nicht mehr daran, sagte ich, und bemerkte, dass es wie ein Vorwurf klang, was mich ängstigte, doch ich redete weiter, aber wieso muss das gleich so dramatisch sein mit den Scheißbetablockern? Warum hast du nicht einfach irgendetwas gesagt?
Sie schwieg. Sie sollte an dieser Stelle weinen, doch sie rührte sich nicht, schaute weiter auf den stummen Bildschirm. Unerwartet drehte sie dann den Kopf, sah mir in die Augen, das erste Mal seit ich weiß nicht wie lange, und sagte, dass ich viel zu sensibel gewesen sei als Kind, ich hätte das Dorf und die Leute hier und dann die Schnösel im Gymnasium niemals überlebt. Deshalb musste man dich dämpfen, sagte sie mit großer Selbstverständlichkeit. Daher also rührt diese meine übermächtige Dumpfheit des Gefühls, schrieb ich eine Viertelstunde später im Kinderzimmer in den Laptop.
Am Morgen war ich nicht sicher, ob ich diese Minuten vor dem Fernsehflackerlicht möglicherweise nur geträumt hatte, wegen des vielen Weißweins im Speedy, nein, im Café Meier. Der Schmerz im Hinterkopf war ein eindeutiger Beleg dafür, dass es zu viel Wein gewesen war. Aber ich bezweifelte, dass es genug gewesen war, um solche Fragen stellen und solche Antworten anhören zu können.
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Hörst du nicht, wie laut klagend die Töne durch den Nebel dringen! Dies schrieb Johann Georg Kohl, und ich stahl seinen Satz, um die Beerdigung des Severinus zu beschreiben, wie die Mitbrüder seinen Leichnam in die beinahe gefrorene Erde in Mautern betteten, im kalten, nebligen norischen Jänner, wohl wissend, dass es eine Lüge war. Denn in Eugipps Vita kommt die Bestattung des Heiligen Mannes nur mit ein paar Zeilen vor, ohne großes Wehklagen und Heulen, es scheint vielmehr da, im Jahre 482, schon allen Beteiligten klar gewesen zu sein, dass es sich bloß um ein Provisorium handelte, dass alles Romanische bald schon zur Gänze entfernt werden würde aus der Donauprovinz, also klagte man nicht viel herum, sondern regelte pragmatisch das zu Regelnde. Kaum lag Severinus in der Erde, offensichtlich nur in sein Mönchsgewand gehüllt, ließen die Ältesten seiner Klostergemeinschaft gleich einen hölzernen Sarg für ihn anfertigen, um bereit zu sein für die Vertreibung, die Übersiedlung, die Heimführung ins italische Kernland. Zu viel der Eile, wie sich zeigte, es sollte dann doch noch sechs Jahre dauern, bis sie den Körper des Heiligen Mannes wieder ausgruben und auf den Wagen packten zu all dem anderen Zeug und ihn nach Süden schafften.
Ich muss aufhören, ständig etwas zu behaupten. Severinus war ein Narr, Severinus war ein Schwindler, Severinus war kein Mönch, Severinus war ein Wundertaten-Vorgaukler, Severinus war Politiker, Severinus war Militär, alles Behauptungen. Severinus war und ist, was ich aus ihm mache. Was jeder und jede aus ihm macht. Sobald jemand nur den Namen Severinus denkt, und dann an die Person und deren Walten und Wirken, ist das nicht Severinus, sondern das, was im Kopf von jemandem gedacht wird, und wenn dieses Denken niedergeschrieben wird, so geschieht zwar eine Verräumlichung, aber nicht die Verräumlichung Severinus’, sondern die Verräumlichung dieses Denkens. Eugippius war der Erste, der mit dieser Kulturtechnik aus dem gelebt habenden wahren Severinus eine Erfindung des Verräumlichers Eugipp gemacht hat. Und wenn ich mein Severinuszeug in den Laptop tippe, dazu im Netz, wo Schrift und Bild gleichsam wie Verflüssigtes vorhanden sind, aus dem man schöpfen kann, Severinusmaterial aus den verschiedensten Zeiten und Orten suche und finde und dies alles zusammenfüge, so geschieht zwar etwas neues, anderes, nämlich eine Verzeitlichung zusätzlich zur Verräumlichung, aber der Vorgang verzeitlicht nicht Severinus, sondern nur das, was in meinem Kopf vorgeht.
Ich hatte genug
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