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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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sie bis zum Schluss nicht verkraften können. Darum haben wir dich so getauft. Ihr zuliebe, nicht wahr. Und du warst ja auch, sagte sie, und begann zu weinen, redete unter Tränen weiter, damals wie du klein warst, da warst du ihr liebster.
    So geht das nicht, dachte ich. Wer seine Geschichte preisgibt, gibt seine Seele preis. Das wollte ich nicht. Ich wollte ihre Seele nicht. Ich war zufrieden gewesen mit dem, was ich mir eingerichtet hatte, eine Mutter-Sohn-Sache mit einer guten Portion Distanz, ihr schien es ebenfalls recht gewesen zu sein, nichts preisgeben zu müssen. Warum fing sie jetzt damit an? Waren die letzten sieben Jahre zu viel gewesen, wo sich die Distanz räumlich in großem Ausmaß erweitert hatte? In den Jahrzehnten davor waren offensichtlich die fünfzehn Kilometer zwischen ihrem Dorf und Linz, und dann die zweihundert Kilometer zwischen dem Dorf und Wien eine für sie passende Entfernung gewesen, und jetzt waren ihr die siebeneinhalbtausend Kilometer zwischen dem Dorf und Thunder Bay zu viel?
    Ich kann das nicht sehen wie T. C. Boyle, der es sich nicht zugesteht, seiner Mutter Vorwürfe zu machen, weil sie sich ihm entzogen hat. Er versteht es, dass das emotionale Ich seiner Mutter verschwunden ist nach dem Verschwinden des von ihr geliebten Menschen. Das kann ich nicht. Kann nicht verstehen, kann nicht und will nicht. Es steht mir zu, verletzt zu sein.
    Es war nicht auszuhalten. Ich wünschte, ein Indianer zu sein und Haltung bewahren zu können wie ein solcher. Und ich wünschte, alle wären sie damals Indianer gewesen, und meine Oma oder mein Opa, egal wer, Hauptsache, einer von den beiden wäre gleich gestorben nach ihrem Lieblingssohn, um die Unerträglichkeit von der Familie zu nehmen, so beschreibt es Kohl, es ist für die Anishinaabe das Schlimmste, wenn Kinder sterben, weil die noch zu ungeschickt sind und zu unerfahren in allen Anforderungen von leben und sterben, sodass die meisten von ihnen beim Überqueren des Totenflusses das wilde Winden und Schütteln der Großen Schlange nicht bändigen und ausgleichen können und in das Wasser stürzen und zum Frosch oder Fisch werden im Augenblick und niemals das Paradies erreichen, in dem es nur Heiterkeit gibt und Tanz und genügend Nahrung auf immer. Man hatte Kohl erzählt von einer indianischen Frau, deren Kind gestorben war, die hatte ganz entsetzlich geschrien und geweint. Gleich darauf starb auch der Gatte, da trocknete sie ihre Tränen, zeigte sich getröstet und zufrieden. Ich bin nun so froh, weil mein Mann nun hinter meinem Kinde her ist, hatte die Frau den Nachbarn gesagt, er hat Kraft und ist ein tüchtiger Jäger, er wird den Kleinen sicher übers Wasser bringen. Ich bin nun außer Sorge.
    Unvermittelt stand meine Mutter auf und redete von weitschichtigen Verwandten, suchte Fotos von denen im Wohnzimmerschrank, denen ist es nach dem Krieg besonders dreckig gegangen, sagte sie, weil das Familienoberhaupt ein hochrangiger Funktionär in der Nazizeit war, Kaplitz, Böhmen, und dann waren die von einem Tag auf den anderen plötzlich Flüchtlinge, mittellos, hatten nichts als das, was auf einem Leiterwagen Platz fand, den die Frau mit den zwei Buben ziehen konnte, und da in Österreich hat man sie auch jahrelang – geschnitten, weil der so ein Nazi war. Sie fand ein Bild, legte es vor mir auf den Tisch, fremde Menschen standen um ein großes protziges Auto, Marke Steyr, der eine da war der Bonze unter den Nazis, sagte sie, den haben die Tschechen dann aufgehängt.
    Ich schaltete den Recorder ab und ging in mein Jugendzimmer. Am späten Nachmittag fuhr ich in die Stadt und betrank mich im Café Meier, stellte mir vor, ich hörte wieder das Schreien und Streiten der Betrunkenen bei der Weihnachtsfeier, als das hier noch das Speedy war, hörte die scheppernde Musik aus den Musicboxlautsprechern, Angie, Angie, ain’t it good to be alive, und sähe Heather stehen am Beatclub-Automaten, Heather mit dem weizenblonden Schoß, aber all die Halluzinationen und Vergangenheitsheraufbeschwörungen blieben blass. Möglicherweise war ich zu betrunken, als dass ich Heather sehen und Angie hören und Heathers nie ein Tilt auslösende Hüften spüren hätte können.
    Als ich zurückkam, saß meine Mutter im Dämmerlicht, nur der Fernseher erhellte den Raum, er lief ohne Ton, vor ihr auf dem Tisch die Schachtel mit den Fotos. Ich setzte mich in den Sessel am Fenster. Heute Nachmittag hat man dir angemerkt, wie es dir geht, sagte ich. Sie sah starr auf

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