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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Stadtverwaltung von Vechta, die schickten mir Adresse und Telefonnummer des hochbetagten früheren Archivbeamten, aber der konnte mir auch nicht weiterhelfen.
    Schließlich fasste ich allen Mut, den ich hatte, und das war nicht viel, sobald ich ihr gegenüber saß, und ließ sie nicht mehr abschweifen zu ihrer unbeschreibbar armen, aber in Summe doch schönen Kindheit und zu den Geschichten von endlosen täglichen Fußmärschen zur Bahnstation in Alkoven und den Bedrängnissen vor, während und nach der schon schlimmen Zeit, wie sie die Nazijahre und den Krieg nannte, sondern fragte sie, warum ich diesen Namen trage, der mich bereits als Kind verstört hatte auf dem Kriegerdenkmal neben der Dorfkirche.
    Es war, als hätte sie auf diese Frage gewartet, lange schon, gleich kam es aus ihr heraus, mit völliger Selbstverständlichkeit sagte sie, dass der Verlust des jüngsten und liebsten Kindes ihre Mutter, die Zähneausreißer-Oma, in einem Ausmaß, das man sich nicht vorstellen könne, niedergerissen habe, anhaltend und bis an das Ende ihres Lebens, sodass sie und ihr Mann, mein Vater, mir schließlich diesen Namen gegeben hätten, um der Oma eine Freude zu machen. Was auch gelungen sei, bis zu einem gewissen Grad, ich sei der Oma rasch das liebste von ihren Enkelkindern geworden und die Freude der wenigen Jahre, die sie noch zu leben gehabt hatte.
    Und dann wurde sie, die mir immer so gefasst vorgekommen war und kühl bis zur Gleichgültigkeit, ganz langsam traurig, tieftraurig, so sehr packte sie die Traurigkeit, dass sich ihr Gesicht und ihr Körper veränderten auf eine seltsame Art, es sah aus wie ein Zusammensacken bei gleichzeitiger Aufblähung. Wir haben alles unternommen, um meinen Bruder vom Lazarett in Detmold wegzuholen und heimzubringen, aber das war unmöglich, sagte sie leise, ein Bekannter, der hat ein wenig Englisch gekonnt, ist ins Landhaus in Linz gegangen, da waren ja die Besatzungsmächte. Aber: Unmöglich.
    Sie bellte ein grausiges Lachen, sagte, dass ihr heute noch ungut werde, wenn sie an diese unheimliche angebliche Krankenschwester denkt. Auf einmal sei diese Frau vor der Tür gestanden und habe erzählt, sie habe den Sohn der Familie in Detmold betreut. Wahrscheinlich hat sie irgendjemanden kennengelernt im Dorf, zischte meine Mutter böse, der ihr unsere Geschichte erzählt hat, und die hat irgendwas erreichen wollen bei uns, Geld oder was.
    Wenn man mehr erfahren wolle, sagte die Frau, könne man sie in der Nähe von Salzburg erreichen, in einem DP -Camp. Auffanglager für displaced persons. Die Oma schrieb einen Brief an den Lieblingssohn, steckte ihn zusammen mit ein paar Geldscheinen meiner Mutter in die Manteltasche und schickte sie nach Salzburg, aber die Frau war nicht zu finden, niemand in dem Lager hatte je ihren Namen gehört. Das war so mysteriös, ganz komisch, sagte meine Mutter.
    Dann erreichte sie irgendwie den Robert in München, meine Mutter klärte die Ungereimtheit nicht auf, dass nach ihrer Darstellung kein Briefverkehr möglich gewesen sei mit Detmold, mit München aber schon. Der Robert ist dann hinausgefahren nach Detmold. Zu ihm. Ins Lazarett. Durch den haben wir erst erfahren, was wirklich los war. Da war er schon recht schlecht beisammen, mein Bruder. Da ist der Robert noch vierzehn Tage bei ihm geblieben, bis er dann gestorben ist. Und durch ihn haben wir eigentlich erst alles erfahren. Von den Besatzungsmächten hat sich kein Mensch gerührt und nichts, da hat man nie etwas erfahren. Wahrscheinlich werden sich meine Eltern erkundigt haben, und dann haben sie doch noch eine Nachricht gekriegt. Die Todesnachricht, nicht wahr.
    An dieser Stelle brach ihr Reden ab, es war keine bewusste Entscheidung, etwas unterbrach sie mit großer Gewalt, sie schaute starr vor sich hin, verzog keine Miene, dann zuckte es in ihrem Gesicht. Als sie weitersprach, war ihre Stimme rau und kratzig.
    Dann ist eh eine Beerdigung gewesen. Der liegt in Detmold, da ist so ein, ein Soldatenfriedhof. Da liegt er. Ja.
    Wieder verstummte sie. Nach einer Ewigkeit setzte sie sich ein wenig gerader in die Wohnzimmercouch, bei den anderen, den Stiefsöhnen, war es nicht so arg für die Mutter, sagte sie, aber bei ihm, das war furchtbar. Das war das Ärgste. Das weiß ich noch gut. Und schwieg wieder, so lange, dass ich Angst bekam, sie würde ganz zu reden aufhören, und deshalb fragte ich, ob da die Oma zusammengebrochen sei. Ja, schon, murmelte sie. Schwieg, flüsterte weiter. Ich glaube, das hat

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