Das leere Land
Größe, sang der Sterbende.
Die Brüder, zwar nicht lauter, aber mit festeren Stimmen: Hallelujah!
Lobt ihn mit dem Schall der Posaunen, lobt ihn mit Harfe und Zither!
Hallelujah!
Lobt ihn mit Pauke und Reigentanz, lobt ihn mit Saitenspiel und Flöte!
Hallelujah!
Lobt ihn mit klingenden Zimbeln, lobt ihn mit schmetternden Zimbeln!
Hallelujah!
Omnis spiritus laudet dominum, sang Severinus, alles, was Odem hat, lobe den Herrn, es war kein triumphierender, laut jubelnder Lobgesang wie in Mendelssohns zweiter Symphonie, es war nur noch ein ersterbendes Hauchen. Ein letztes Hallelujah! antworteten die Brüder, aber das hörte der Heilige Mann nicht mehr, da war er schon tot.
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Es ist in den Beständen des Stadtarchivs Vechta und des Staatsarchivs Oldenburg kein Hinweis zu finden auf ein Arbeitsdienstlager oder einen Rüstungsbetrieb, mailte mir der freundliche alte Herr aus Vechta, der vor seiner Pensionierung im Stadtarchiv gearbeitet hatte, ihn hatte ich angerufen mit meinen Fragen, seine Mails erreichten mich, als ich schon wieder in Thunder Bay war. Auch meinerseits privat durchgeführte Kontaktaufnahmen mit ortsansässigen Personen, die jene Zeiten bewusst erlebt haben, ergaben keine Anhaltspunkte, mailte er, und drückte sein Bedauern aus.
Ich kann nicht sagen, warum ich ausgerechnet wegen der Bomben-Geschichte von Vechta bei externen Auskunftspersonen nachzufragen begonnen hatte. Zweifelte ich an der Glaubwürdigkeit meiner Mutter? Hätte eine PDF -Datei eines eingescannten Originaldokuments, eine sozusagen amtliche Bestätigung oder auch Widerlegung ihrer Geschichte irgendetwas geändert? Natürlich nicht, sagte ich mir vor, es ist eine reflexartige Reaktion aus Journalistenzeiten, vergleichbar dem endlosen Hinterhergoogeln nach irgendwelchen nicht ganz klaren Sätzen oder Absätzen in Kohls Berichten vom Indianerleben am Oberen See. Ich beschloss, meiner Mutter mehr zu trauen als der offiziellen Mitteilung eines gewesenen Stadtarchivars.
Da sei eine Sache, die gehe ihr heute noch unter die Haut, hatte meine Mutter gesagt, als wir uns zusammensetzten zu einem weiteren Befragungsvormittag. Dieses riesige Lager mitten im Wald bei Vechta, in das man sie kriegsdienstverpflichtet hatte, da war alles eigentlich fast schon vorbei, Ende vierundvierzig muss es gewesen sein, oder Anfang fünfundvierzig, jedenfalls war Winter gewesen. Da haben sie Bomben gehabt in Hallen, richtige große Zweihundert-Kilo-Bomben, und die sind scharf gemacht worden, sagte sie. Wir haben die Zünder einbauen müssen, und gleich schweifte sie ab, dass in diesen Hallen auch Sträflinge gearbeitet hätten, Kriegsgefangene oder KZ ler, aber eher Kriegsgefangene, weil deren abseits im Wald gelegenen Baracken hätten die Wächter und die Kriegsdienstmädchen immer nur das Russenlager genannt.
Na ja, die Bomben, sagte sie schließlich. Also eines Tages kommt da die Chefin von unserer Baracke und holt mich, ich muss da mit, und dann habe ich schwören müssen, dass ich niemals irgendjemandem sagen werde, was ich da jetzt zu machen habe. Dann haben sie mich tief in den Wald hinein gefahren, da war auch so eine Holzbaracke, einige andere Mädchen, und da hat man die Zünder einstellen müssen, in Abständen von zehn Minuten. Dass alle zehn Minuten eine Bombe zündet. Zwei Tage lang habe ich dorthin müssen.
Ich fragte, was das für einen Zweck gehabt hatte, ob das Fliegerbomben waren für besonders teuflische Angriffe, mit zeitverzögert hochgehenden Bomben, stundenlang sollte es krachen in den Feindesstädten, alle zehn Minuten. Warte, sagte sie, ich erzähl es dir gleich. Sie selbst hatte damals geglaubt, dass sie Bomben scharf machte für den finalen Abwehrkampf gegen die von allen Seiten andrängenden Feindeshorden. Erst Jahre nach dem Krieg habe sie einmal zufällig eines der anderen Mädchen getroffen, die im Wald bei Vechta die Zeitzünder hineingeschraubt hatten in die Riesenbomben.
Die erzählte: Sie haben es selbst in die Luft gesprengt! Das eigene Lager! Wie wir damals rausgebracht wurden, sagte die Kriegsdienstkameradin, da hat man es genau gehört. Ein dauerndes Krachen aus dem Wald, ein regelmäßiges Krachen, alle zehn Minuten ist etwas in die Luft gegangen. Meine Mutter sah mich an, nickte mit dem Kopf und sagte: Da haben sie ja schon gewusst, dass es nicht mehr lange gehen wird. Und ich begann das zu recherchieren, am nächsten Tag schon, zuerst bei Google und Wikipedia, wo nichts zu finden war, dann mailte ich an die
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