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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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davon, immer mehr anzuhäufen, aus Büchern, Tourismusprospekten, Märchenbüchern und Internetsagen, Geschichten um Geschichten klebte ich übereinander, und je mehr sie wurden, desto weniger erzählten sie. Immer verkrusteter wurde die Sache. Dabei wollte ich genau das Gegenteil. Ich wollte alles wegkratzen, was Menschen gemacht haben, Schicht um Schicht abspachteln, die sich klebrig und zäh darübergelegt haben.
    Wer singt und jauchzt da im Wald?, hatte Kohl im Birkenrindenkanu den Indianer gefragt, der den neugierigen deutschen Besucher ein kleines Flüsschen stromabwärts ruderte, um das Herbstlager eines alten, erfahrenen Pelztierjägers zu besuchen. Hörst du nicht, wie laut klagend die Töne durch den Nebel dringen?, hatte der Indianer entrüstet geantwortet, und nun hörte Kohl endlich, dass da jemand in der Ferne mit zitternder Stimme ein Trauerlied sang, das nun auch ihn zutiefst rührte. Der Alte im Busch, nicht zu sehen für die im Kanu, klagte in der Waldeinsamkeit um seinen Sohn Wabasha, der vor Jahresfrist gestorben war, mein Sohn, mein Sohn, mein junger Wabasha, warum hast du mich verlassen? Warum bist du so früh ins Land der Schatten hinübergegangen? Oh, hättest du mich Alten doch mitgenommen!
    Der Seher Noricums hatte die Stätte seines Wirkens verlassen. Es folgte das letzte Kapitel des Untergehens und Verschwindens. Es hatte Jahrhunderte gedauert, bis sich erfüllte, was die Sprüche sagen, doch es erfüllte sich nun. Unter Waffen gehen heißt untergehen, denn wo Krieger sind, da wachsen bald schon nur noch Disteln und Dornen. Die Barbaren hatten gesiegt. Ich weiß nicht, ob sie gefeiert haben, während die Hinterbliebenen des Severinus trauerten. Wahrscheinlich schon. Sie wussten nicht, dass kein Sieg ein Grund zur Freude ist, denn Freude am Siegen ist letzten Endes nur Freude am Töten, und jeder Sieg ist eine Trauerfeier.

75
    Wenn sie wieder zu weinen beginnt, breche ich ab und verschwinde und nehme mir für die letzte Woche ein Zimmer in St. Pölten, nahm ich mir vor, es würde ganz leicht zu argumentieren sein, meine Völkerwanderungsgeschichte ist beinahe fertig, würde ich sagen, es geht jetzt um die Schlussredaktion mit den Vertretern meiner Auftraggeber, da muss ich praktisch jeden Tag zu denen ins Büro. Und sie würde weinen, da war ich sicher, stand doch die Notwendigkeit an, etwas zur Sprache zu bringen, das ich ihr vorwerfe seit Jahrzehnten, auf eine fiese Art, denn ich sprach den Vorwurf nie aus. Robert. Ihre wahre Liebe.
    Aber dann überfiel nicht ich sie, sondern sie mich mit einer Frage. Ob ich für immer drüben zu bleiben vorhätte, oder doch wieder heimkommen würde, irgendwann einmal. Weiß nicht, sagte ich, drüben kriege ich Aufträge, hier nicht. Wenn das jetzt mit der Landesregierung gut ankomme, böten sich sicher hier auch Möglichkeiten, sagte sie, weiß nicht, wiederholte ich, muss man sehen. Die Wochen jetzt in der Heimat, die ganze Zeit die Donau auf und ab, die müssten mir doch die Augen geöffnet haben, sagte sie. Dass es daheim am schönsten sei. Gerade für dich, sagte sie, wo du doch so gern am Wasser warst, immer nur am Wasser.
    Ja. Aber nicht hier, nicht im Dorf, nicht in Linz, wo überall gleich alles eine Bedeutung hat und einen Bezug. Wenn schon Donau statt Lake Superior, dann müsste es die Donau bei Quintanis sein, Künzing, und die Tage müssten immer so goldene Septembernachmittage sein wie der, an dem ich zum Severinsmuseum gefahren war, unerwartet kräftige Sonne scheint durch den Dunst über dem Fluss, feine Nebelschlieren tanzen einen unglaublich komplexen Schleiertanz, gemeinsam mit den herbstmüden Mücken und Schnaken.
    In Künzing war es mir am ehesten gelungen, mit irgendetwas in Verbindung zu kommen, mit Severinus, mit den wilden kampflustigen Männern von Rugiland und Herulerland, mit den geschundenen, resignierenden Romanen der letzten, der verschwindenden Generation, ihrer aller Gegenwart hatte ich gespürt, als ich die Kartusche mit dem Knochensplitter aus dem Skelett des Heiligen Mannes berührt hatte. So wie ich damals, bei dem Wochenendausflug nach Radebeul, auf einmal den Wahnsinn und die Größe Karl Mays gespürt hatte, als ich die beiden Mündungslöcher des Bärentöters befingert hatte.
    Damals standen Old Shatterhands Bärentöter und Henrystutzen und Winnetous Silberbüchse noch nicht in der Villa Shatterhand im ersten Stock hinter Glas, sondern hingen an der Holzbretterwand gleich nach dem Eingangsbereich der Villa

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