Das leere Land
bis Linz.
Ein paar Kilometer nach der Ortseinfahrt von Linz, als wir uns dem Zentrum näherten, sagte sie mir, dass ich auf den Hauptplatz fahren solle. Da wolle sie aussteigen. Ich fragte sie, was sie denn vorhabe, ob sie jemanden kenne in Linz. Sie antwortete nicht. Ich hielt an in zweiter Spur, neben einer Reihe von Taxis, sie stieg aus. Während sie den Rucksack vom Rücksitz holte, sagte sie, dass sie wisse, wen ich meine, sie lese auch dauernd von der, sie nannte den Namen des untergetauchten Mädchens, aber das sei nicht sie.
Ich heiße nicht so wie die aus den Zeitungen, sagte sie. Mein Name ist Trixi. Und verschwand in einer Seitengasse. Ich nahm mir vor, gleich am nächsten Morgen Zeitungen zu kaufen und Fotos des untergetauchten Mädchens zu suchen.
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Ich beginne meinen Aufsatz für den Katalog zur großen länderübergreifenden Landesausstellung mit der Beschreibung eines Flusses, den es nicht gibt. Die Rede ist von der Businca. Flüsschen bei Quintanis. Außer in der Vita Sancti Severini des Eugippius, der Biografie des Heiligen Sehers von Noricum also, verfasst von dessen glühendstem Bewunderer, kommt dieses Gewässer in keiner anderen Quelle vor, weder in einer historischen noch einer literarischen. Die Businca, sagt Eugipp, umfließt den südlichen Rand des Kastells Quintanis, dessen nördlicher Rand direkt an der Donau liegt, der in jenen Jahren schon mehr als ertragbar brüchig und unzuverlässig gewordenen Grenze zur Welt der Barbaren.
Quintanis, das ist Künzing. Das heutige Künzing ist eine lang gestreckte Ansammlung blasser Zersiedelungshäuschen entlang der deutschen Bundesstraße 8, der Fortsetzung der österreichischen B 130; gut dreißig Kilometer hinter Passau säumt Künzing die B 8, die in der Folge bis Elten an der holländischen Grenze führt. Um heute von Künzing zur Donau zu gelangen, bedarf es eines einstündigen Spaziergangs vom Friedhof weg über die Windgasse hinaus ins flache Ackerland und durch gelegentliche Flecken von Augehölz, an Langkünzing vorbei zum Uferweiler Endlau, zurück vielleicht mit einem Abstecher zu den Schotterteichen von Gramling und Arbing. Die Businca wird man auf diesem Spaziergang nicht finden. Ob es sich eventuell um den Angerbach handelt oder die Ohe, darüber streiten die Chronisten.
Nein. Diese Einleitung zu einem Aufsatz verstößt gegen das erste Gebot jener, die zur Unterhaltung und auch Belehrung eines Publikums schreiben: Du sollst nicht langweilen. Ich werde meinen Katalogbeitrag anders anheben lassen: Severinus ist nur ein Narr. Das wird mein erster Satz sein.
Severinus ist nur ein Narr. Oder er ist ein Betrüger, vorsichtiger formuliert, ein Gaukler mit dem Vorsatz, zu betrügen. Alle, die Lateinisch sprechen in dieser nördlichen Grenzprovinz, die Nachkommen der vor Generationen aus dem sonnigen Italien gekommenen Römer, die Sprösslinge zahlloser Liaisonen von Kolonisatoren und Kelten und Germanen und die reinblütigen Barbaren, die der Eroberer Kultur und Sprache freudig und leicht übernommen hatten, die Noriker also, sie sind ja leicht zu betrügende Menschen. In steter Angst vor den Rugiern und Herulern und Arianern und allen anderen Arten von Ausländern, die in endlosen Wellen gegen die Nordgrenze anrollen, müssen sie leben. In ständiger Erwartung, von den Barbaren entführt zu werden, beraubt, geschändet, gemordet, klammern sie sich an jedes Zeichen, und sei es noch so durchsichtig betrügerisch und lächerlich.
Greifen nach jeder Nachricht aus einer jenseitigen, besseren Welt wie Ertrinkende nach dem rettenden Ast. Ein stinkender, zerlumpter, in Zungen redender falscher Mönch, ungeniert mit den verschorften, verdreckten nackten Füßen auf ihre Dorfplätze stampfend und den örtlichen Epileptiker nach dem Anfall hoch hebend und triumphierend der Meute darbietend, der genügt ihnen, um Hoffnung zu schöpfen. Nein, nicht einmal Hoffnung. Eine Ahnung von Trost nur ist es. Doch die reicht aus, um weiterleben zu wollen. Und die Angst für einen Augenblick zu vergessen.
Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Severinus doch ein Heiliger ist. Einer, der in besonderer Gnade steht, dem der Herr also gnädiger ist als uns Gewöhnlichen, und einer, dem der Herr mehr Heil geschenkt hat als uns anderen. Und damit wir dies auch bemerken, hat ihm der Herr die Gabe der Wundertätigkeit verliehen.
Selbst wenn Severinus ein Heiliger Mann war, wie ihn Eugipp bei jeder zweiten Erwähnung nennt, so muss er zugleich doch auch ein Narr
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