Das leere Land
braucht er Zeugen, dann bittet er unter einem Strom von Tränen die himmlische Macht, ein Werk ihrer Erhabenheit zu zeigen. Als Nächstes spricht er den Toten an: Heiliger Presbyter Silvinus, sprich mit deinen Brüdern!
Der Tote öffnet die Augen. Geschrei und Gejubel in der Kirche.
Silvinus setzt sich auf, er starrt die Umstehenden an, wie sie kreischen, einen Augenblick lang ist er verwirrt. Ist dies das Paradies? Und wenn ja, wieso sieht es aus wie die Holzkirche von Künzing und riecht auch so modrig wie jene? Wieso sind die Brüder um ihn, die doch unter den Lebenden weilen sollten?
Dann beugt sich der Mann Gottes, Severinus, der Erretter Noricums, zu ihm und spricht ihn an. Da dämmert es dem Presbyter Silvinus: Er ist Objekt eines Wunders geworden, ungefragter Darsteller in einer Lazarus-Revue. Er wird in die Geschichte eingehen, doch um welchen Preis: weiterleben müssen auf den Schlammböden am Rande des zerfallenden Imperiums. Dem Untergang beiwohnen müssen, bis zum Ende.
Silvinus platzt der Kragen, er verabreicht dem Heiligen Mann eine schallende Ohrfeige, er schreit ihn an. Was ihm einfalle, ihn wieder aufzuwecken! Wo er, Silvinus, sich doch schon in der Ewigen Ruhe gesehen habe, die er so ersehne! Was für eine Grausamkeit und Zumutung. Nahe beim Herrn sei er gewesen, eine Nacht lang, und jetzt wieder zurück in diesem Drecksloch.
Entschuldigung, murmelt Severinus, und stottert dem tot gewesenen Mitbruder vor, dass man dies ja nicht gewusst habe, bisher habe sich noch keiner der von den Toten Erweckten beschwert, im Gegenteil, man habe ihn, den Erwecker und Wundertäter, in aller Regel mit einer Dankbarkeit überschüttet, die oft an die Grenzen der Peinlichkeit rühre. Ein wenig beleidigt klingt der Heilige Mann, und schnippisch, als er dem Presbyter anbietet, ihn mittels Herbeirufung einer göttlichen Offenbarung wieder in den Zustand des Verstorbenseins zu versetzen. Worum Silvinus, nicht wirklich besänftigt und dementsprechend schroff, dann doch sehr bitten will. Worauf Severinus den Herrn anruft und der eine Offenbarung seiner wundersamen Werke gewährt und also Presbyter Silvinus tot wie nur was zurücksinkt auf die Bahre, auf der seine Leiche schon eine Nacht lang gelegen war.
Zugegeben, in den Details habe ich mir das jetzt ausgedacht. Natürlich hat Silvinus das geistliche und informelle politische Oberhaupt der sich auflösenden Provinzen Rätien und Noricum nicht geohrfeigt. Vielmehr fragte Severinus den neuerlich Lebenden, kaum dass der von den Toten erweckt war, mit größter Einfühlsamkeit, ob er, der Wundertäter, auch wirklich den Herrn bitten solle um ein weiteres irdisches Leben für Silvinus.
Es klingt, als hätte Eugipp da seinen Text, der doch ein Tatsachenbericht sein soll, bereits hingetrimmt auf die folgende Pointe. Denn Silvinus lächelte seine Mitbrüder an, er freute sich an ihrer Freude, doch dann bat er den Heiligen Mann in aller Bescheidenheit und Demut, ihn nicht länger hier festzuhalten, sondern ihn in die Ewige Ruhe zurückzuschaffen, von der er bereits gekostet habe. Worauf er, kaum war seine Stimme verhallt, entseelt entschlief. Und Severinus ermahnte alle Anwesenden mit beschwörender Eindringlichkeit, dieses Ereignis um jeden Preis geheim zu halten. Schreibt Eugipp, der dies Wunder überliefert hat.
Ich liebe diese Geschichte. Weil sie bewirkt, dass ich die ganze Zeit nur lachen will über den Heiligen Mann. Und weil zwei Lehren aus ihr zu ziehen sind, die mir sympathisch scheinen. Nummer eins: Wie groß und gottgefällig und wundersam deine Taten auch sein mögen, letzten Endes sind sie nichts als pure Vergeblichkeit. Nummer zwei: Frage erst, ob du jemandem eine Wohltat erweisen sollst. Es könnte sonst sein, dass dich der ungefragt Beglückte für das beschimpft, was du ihm Gutes tatest. Ja. Mit dieser Lehre und mit dem Lazarus reversus von Künzing soll mein Beitrag beginnen.
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Mein Auftrag ist das Beistellen eines umfangreichen, sowohl geschichtsphilosophisch wie soziokulturell fundierten als auch literarisch gefälligen Aufsatzes über Leben und Wirken des Heiligen Severinus für den zweibändigen Katalog zu einer Landesausstellung, die die Bundesländer Niederösterreich und Oberösterreich in eineinhalb Jahren gemeinsam veranstalten werden. Es gibt in beiden Ländern kein Schloss mehr und kein Kloster, das sie zum Brennpunkt einer solchen Großveranstaltung machen und dabei in einem Aufwaschen renovieren könnten. Daher soll eine ganze Region,
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