Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
mich als erste. Sie roch mich, noch bevor ich bei der Schänke von Simon und Elsie war, und kam angerannt, prallte mir genau gegen die Beine, warf mich um, drückte mich zu Boden, die Pfoten auf meinen Schultern, und leckte mir das Gesicht, bis ich sie in die Nase zwicken musste, damit sie mich aufstehen ließ und mit mir nach Hause lief. Mein Vater war draußen bei der Herde, aber meine Mutter und Wilfrid waren da, und sie packten mich und erwürgten mich beinah und weinten – selbst der gemeine, blöde Wilfrid! –, weil alle so sicher gewesen waren, dass mich der Greif geholt und gefressen hatte. Danach, als sie genug geweint hatte, versohlte mich meine Mutter, weil ich einfach auf Onkel Ambroses Wagen weggefahren war, ohne jemandem was zu sagen, und als mein Vater heimkam, versohlte er mich auch noch mal. Aber das machte mir nichts aus.
Ich erzählte ihnen, dass ich König Lír leibhaftig gesehen hatte und auf seinem Schloss gewesen war, und ich sagte, was mir Schmendrick aufgetragen hatte, aber darüber war niemand sonderlich froh. Mein Vater setzte sich einfach nur hin und stöhnte: »Oh, natürlich – noch ein berühmter Ritter, uns zur Hilfe und dem Greif zur Nachspeise. Euer verfluchter König wird seine verfluchte Person nie hierherbemühen, da könnt ihr euch sicher sein.« Meine Mutter tadelte ihn, weil er vor Wilfrid und mir sowas sagte, aber er fuhr fort: »Vielleicht hat’s ihn ja mal gekümmert, was mit Orten wie diesem, mit Leuten wie uns ist, aber jetzt ist er alt, und alte Könige kümmert nur noch, wer nach ihnen König wird. Da könnt ihr mir nichts erzählen.«
Ich hätte nichts lieber getan, als ihnen zu sagen, dass König Lír hier war, keine halbe Meile von unserer Tür, aber ich tat es nicht, und nicht nur, weil Schmendrick gesagt hatte, ich solle es nicht tun. Ich war mir nicht sicher, was Leute wie mein Vater vom König halten würden, wenn sie ihn sähen – weißhaarig, zittrig und die ganze Zeit nicht richtig da. Ich wusste ja nicht mal, was ich selbst von ihm hielt. Er war ein netter, vornehmer alter Mann, der wundervolle Geschichten erzählte, aber wenn ich ihn mir vorzustellen versuchte, wie er allein in den Midwood ritt, um mit einem Greif zu kämpfen, einem Greif, der seine besten Ritter gefressen hatte… ich konnte es, ehrlich gesagt, nicht. Jetzt, wo ich ihn tatsächlich mit hierhergebracht hatte, wie es mein Ziel gewesen war, hatte ich plötzlich Angst, ihn in den Tod geschleppt zu haben. Und ich wusste, das würde ich mir nie verzeihen.
In dieser Nacht wünschte ich mir so sehr, sie zu sehen, Schmendrick, Molly und den König. Ich wünschte mir, dort draußen mit ihnen auf dem Boden zu schlafen und ihren Gesprächen zuzuhören und dann vielleicht nicht so viel Angst vor dem Morgen zu haben. Aber das ging natürlich nicht. Meine Familie ließ mich kaum so lange aus den Augen, dass ich mir das Gesicht waschen konnte. Wilfrid folgte mir auf Schritt und Tritt, stellte endlose Fragen nach dem Schloss, und mein Vater brachte mich zu Catania, die mich die ganze Geschichte nochmal erzählen ließ und sich dann mit ihm einig war, dass der Ritter, den der König diesmal geschickt hatte, wer er auch sein mochte, sicher auch nicht mehr ausrichten würde als die anderen. Und meine Mutter stopfte mich mit Essen voll, schimpfte mit mir und drückte mich, alles mehr oder weniger gleichzeitig. Und dann, in der Nacht, hörten wir den Greif, wieder diesen gedämpften, einsamen, schrecklichen Laut, den er von sich gab, wenn er jagte. Bei alldem kam ich natürlich nicht viel zum Schlafen.
Doch bei Sonnenaufgang, nachdem ich Wilfrid geholfen hatte, die Ziegen zu melken, ließen sie mich zum Lager der drei gehen, solange nur Malka mitkam, was praktisch so war, als wäre meine Mutter dabei. Molly half König Lír bereits, seine Rüstung anzulegen, und Schmendrick vergrub die Reste vom gestrigen Abendessen, als ob es der Anfang eines ganzen normalen Tages auf ihrer Reise irgendwohin wäre. Sie begrüßten mich, und Schmendrick dankte mir dafür, dass ich mich an seine Bitte gehalten hätte, sodass der König eine erholsame Nacht gehabt habe, ehe er Ich ließ ihn nicht ausreden. Ich wusste nicht, dass ich es vorhatte, ich schwör’s, aber ich rannte zu König Lír, warf mich an ihn und sagte: »Geh nicht! Ich hab’s mir anders überlegt, geh nicht!« Genau wie Lisene.
König Lír guckte auf mich runter. In dem Moment schien er so groß wie ein Baum, und er tätschelte mir mit seinem
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