Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
Geschichten, und er wusste, dass sie wahr waren, weil er sie alle selbst erlebt hatte! Solche Geschichten hatte ich noch nie gehört und werde ich nie wieder hören. Das weiß ich mit Sicherheit.
Er erklärte mir, was man noch alles bedenken muss, wenn man gegen einen Drachen zu kämpfen hat, und wie er gelernt hatte, dass Oger nicht immer so dumm sind, wie sie aussehen, und warum man nie während der Schneeschmelze in einem Bergsee schwimmen soll und wie man sich manchmal mit einem Troll anfreunden kann. Er sprach vom Schloss seines Vaters, wo er aufgewachsen war, und davon, wie er dort Schmendrick und Molly kennengelernt hatte, und sogar von Mollys Katze, die, wie er sagte, ein kleines Ding mit einem lustigen verkrümmten Ohr gewesen sei. Aber als ich ihn fragte, warum das Schloss eingestürzt sei, wollte er mir’s nicht erzählen, so wenig wie Schmendrick. Seine Stimme wurde ganz leise und fern. »Ich vergesse Dinge, Kleines«, sagte er. »Ich versuche sie festzuhalten, aber ich vergesse sie doch.«
Na ja, das war mir schon klar. Er nannte Molly die ganze Zeit Sooz, und mich nannte er nie anders als Kleines, und Schmendrick musste ihn immer wieder dran erinnern, wo wir hinwollten und warum. Aber so war er nur nachts. Tagsüber war mit ihm meistens alles in Ordnung. Und wenn er dann wieder verwirrt war und davonwanderte (nicht nur innerlich – einmal fand ich ihn nachts im Wald, wo er mit einem Baum redete, als wäre der sein Vater), brauchte man nur ein weißes Einhorn namens Amalthea zu erwähnen, und schon fand er wieder zu sich. Meistens war es Schmendrick, der das machte, aber dieses eine Mal holte ich ihn zurück, und er hielt meine Hand und erklärte mir, woran man einen Puka erkennt und warum das wichtig ist. Aber ich brachte ihn nie dazu, auch nur ein Wort über das Einhorn zu sagen.
Da, wo ich lebe, kommt der Herbst früh. Tagsüber war es immer noch heiß, und der König wollte außer zum Schlafen nie seine Rüstung ablegen, nicht mal den Helm mit dem großen blauen Helmbusch darauf, aber nachts kroch ich zwischen Molly und Schmendrick, um es wärmer zu haben, und die ganze Zeit hörte man überall Hirsche röhren, ganz wild wegen der Brunftzeit. Einer griff sogar König Lírs Pferd an, während ich mit drauf saß, und Schmendrick wollte schon irgendeinen Zauber gegen den Hirsch einsetzen, so wie damals gegen die Krähe. Aber der König lachte und ritt geradewegs auf den Hirsch los, genau in dieses spitze Geweih. Ich schrie auf, aber die schwarze Stute zögerte keinen Moment, und schließlich drehte der Hirsch ab, schritt gemächlich davon und verschwand im Gesträuch. Er bewegte den Schwanz im Kreis, so wie es Ziegen tun, und guckte genauso verwirrt und träumerisch wie König Lír.
Ich war stolz, als ich den Schreck erst mal überwunden hatte. Aber Schmendrick und Molly schimpften mit ihm, und den Rest des Tages entschuldigte er sich andauernd bei mir, weil er mich in Gefahr gebracht hatte, wie Molly es damals befürchtet hatte. »Ich hatte vergessen, dass du bei mir warst, Kleines, und dafür werde ich dich immer um Verzeihung bitten.« Dann lächelte er mich an, mit diesem wunderbaren, schrecklichen Heldenlächeln, das ich schon kannte, und sagte: »Aber, ach, Kleines, das Erinnern!« Und in dieser Nacht streunte er nicht davon, verlief sich nicht. Er saß vielmehr fröhlich mit uns am Feuer und sang ein ganzes langes Lied über die Abenteuer eines Gesetzlosen namens Captain Cully. Von dem hatte ich noch nie gehört, aber das Lied ist richtig gut.
Wir erreichten mein Dorf am Spätnachmittag des vierten Tages, und bevor wir hineinritten, ließ Schmendrick uns alle nochmal anhalten. Er sah mich an und sagte: »Sooz, wenn du ihnen sagst, dass das hier der König persönlich ist, gibt es nur Lärm und Jubel und Feiereien, und bei dem ganzen Wirbel findet niemand Ruhe. Es ist besser, du sagst ihnen, wir hätten König Lírs berühmtesten Ritter mitgebracht und er brauche eine Nacht, um sich im Gebet und in der Kontemplation zu läutern, ehe er sich eures Greifs annimmt.« Er fasste mich am Kinn und zwang mich, in seine grünen, grünen Augen zu schauen, und sagte: »Mädchen, du musst mir vertrauen. Ich weiß immer, was ich tue – das ist mein Problem. Sag deinen Leuten, was ich eben gesagt habe.« Und Molly berührte mich und sah mich an, ohne etwas zu sagen, und da wusste ich, es war richtig so.
Ich ließ sie in ihrem Lager am Rand des Dorfs zurück und ging allein nach Hause. Malka begrüßte
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