Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
Rufen zu hören, so viel, dass man hätte meinen können, ein Krieg sei ausgebrochen, aber niemand kam herein, um König Lír zu sehen oder mit ihm zu sprechen, ihm Glück zu wünschen oder sonstwas. Es war fast, als wäre er gar nicht da.
Ich für mein Teil versuchte, einen Brief nach Hause zu schreiben, den König und das Schloss zu schildern, schlief aber ebenfalls ein und schlief den ganzen restlichen Tag und die Nacht durch. Ich erwachte in einem Bett, ohne mich erinnern zu können, wie ich da hingekommen war, und Schmendrick guckte auf mich herab und sagte: »Hopp, Kind, aufstehen! Du hast diesen ganzen Aufruhr angezettelt – jetzt bring die Sache auch zu Ende. Der König kommt mit, um euren Greif zu töten.«
Ich war schon aus dem Bett, bevor er ausgeredet hatte. Ich sagte: »Jetzt? Brechen wir jetzt gleich auf?«
Schmendrick zuckte die Achseln. »Um die Mittagszeit, falls ich Lisene und den übrigen klar machen kann, dass sie nicht mitkommen. Lisene will fünfzig Bewaffnete mitschleppen, ein Dutzend Wagenladungen Proviant, ein Regiment Boten, um Nachrichten hin und her zu schicken, und jeden verflixten Arzt im ganzen Königreich.« Er hob seufzend die Hände. »Ich muss sie wahrscheinlich alle in Stein verwandeln, wenn wir heute noch loskommen wollen.«
Ich dachte, dass das wohl nur ein Scherz war, aber mir war schon klar, dass man das bei Schmendrick nie wissen konnte. Er sagte: »Wenn Lír mit einem ganzen Gefolge mitkommt, ist da kein Lír. Verstehst du, was ich meine, Sooz?« Ich schüttelte den Kopf. Schmendrick sagte: »Es ist meine Schuld. Wenn ich öfter hierhergekommen wäre, hätte ich etwas tun können, um den Lír wiederherzustellen, den Molly und ich einst kannten. Meine Schuld, meine Gedankenlosigkeit.«
Mir fiel wieder ein, wie Molly gesagt hatte: »Schmendrick hat Probleme mit der Zeit.« Ich wusste immer noch nicht, was sie damit gemeint hatte, und auch nicht, was das jetzt heißen sollte. Ich sagte: »So werden alte Leute nun mal. Wir haben bei uns im Dorf alte Männer, die genauso reden wie er. Und auch eine alte Frau, Mam Jennet. Sie weint immer, wenn es regnet.«
Schmendrick ballte die Faust und schlug sich damit ans Bein. »König Lír ist nicht verrückt, Mädchen, und er ist auch nicht senil, wie Lisene ihn genannt hat. Er ist Lír, immer noch Lír, das verspreche ich dir. Nur hier, in diesem Schloss, wo er von braven, treuen Leuten umgeben ist, die ihn lieben – die ihn zu Tode lieben werden, wenn man sie lässt – nur hier verfällt er in… in den Zustand, den du gesehen hast.« Er sagte einen Moment nichts mehr, bückte sich dann ein wenig, um mich genauer zu mustern. »Hast du bemerkt, wie er sich verändert hat, sobald ich Einhörner erwähnte?«
»Ein Einhorn«, antwortete ich. »Ein Einhorn, das ihn geliebt hat. Ja, das ist mir aufgefallen.«
Schmendrick sah mich jetzt mit ganz neuen Augen an, als ob wir uns noch nie begegnet wären. Er sagte: »Verzeih, Sooz. Ich halte dich immer wieder für ein Kind. Ja. Ein Einhorn. Er hat sie nicht mehr gesehen, seit er König wurde, aber was er ist, ist er durch sie. Und wenn ich dieses Wort ausspreche, wenn Molly oder ich ihren Namen sagen – was ich noch nicht getan habe –, wird er wieder zu sich gerufen.« Er schwieg kurz, sagte dann noch ganz leise: »Wie wir es mit ihr so oft tun mussten, vor so langer Zeit.«
»Ich wusste nicht, dass Einhörner Namen haben«, sagte ich. »Ich wusste nicht, dass sie jemals Leute lieben.«
»Tun sie auch nicht. Nur dieses eine.« Er drehte sich um, ging rasch davon und sagte noch über die Schulter: »Ihr Name war Amalthea. Jetzt geh und such Molly, sie wird dafür sorgen, dass du etwas zu essen kriegst.«
Der Raum, in dem ich geschlafen hatte, war nicht groß, nicht für einen Raum in einem Schloss. Catania, die Vorsteherin unseres Dorfs, hat ein Schlafzimmer, das fast genauso groß ist, das weiß ich, weil ich manchmal mit ihrer Tochter Sophia spiele. Aber die Leintücher, in denen ich gelegen hatte, waren mit einer gestickten Krone verziert, und ins Kopfbrett war das blaue Banner mit dem Einhorn geschnitzt. Ich hatte die ganze Nacht in König Lírs Bett geschlafen, während er auf einem alten Holzstuhl vor sich hin döste.
Ich nahm mir nicht die Zeit, erst noch mit Molly zu frühstücken, sondern lief direkt zu dem kleinen Raum, wo ich den König zuletzt gesehen hatte. Er war dort, aber so anders, dass ich wie erstarrt in der Tür stehen blieb und erst mal nach Luft schnappte. Drei
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